Lilith die erste Eva

Für meine Enkelin Ruth Siegmund Hurwitz Lilith —die erste Eva Eine Studie über dunkle Aspekte des Weiblichen Mit ei

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Für meine Enkelin Ruth

Siegmund Hurwitz

Lilith —die erste Eva

Eine Studie über dunkle Aspekte des Weiblichen

Mit einem Vorwort von Marie-Louise von Franz

DAIMON

VERLAG ZÜRICH

Dr. Siegmund Hurwitz Forchstrasse 389

8008 Zürich

2. Auflage 1983 © Copyright 1980, 1983 Daimon Verlag, Zürich ISBN: 3-85630-004-X Umschlag und Gestaltung: J.T. Miskin/P. Schrumpf

Inhaltsverzeichnis

A. Religionsgeschichtlicher Teil: I. Vorwort II. Einleitung III. Der Mythos und seine Geschichte 1) Der Doppelaspekt der Lilith a) Der Lamaschtü-Aspekt b) Der Ischtar-Aspekt 2) Die Arslan Tasch Inschriften und das Bumey Relief a) Arslan Tasch I b) Arslan Tasch II c) Das Bumey Relief 3) Lilith in Bibel und Talmud 4) Das Testament Salomos: Obyzouth 5) Die aramäischen Zaubertexte 6) Lilith in der Gnosis 7) Pseudepigraphische Schriften a) Das Alphabet des ben Sira b) Das Buch Raziel 8) Lilith in der Volkslegende 9) Lilith in der arabischen Literatur: Die Karina 10) Lilith in der jüdischen Mystik: Lilith und Samael 11) Amulette gegen Lilith

B. Psychologischer Teil

I. Psychologische Aspekte des Lilith-Mythos 1) Die erste Begegnung: Der Lilith-Traum 2) Lilith und Saturn: Die Melancholie 3) Lilith und Adam: Der Machtkampf 4) Angst und Faszination 5) Die zweite Begegnung: Eine aktive Imagination II. Religionspsychologische Reflexionen Autorenregister

13 19 22 40 46 56 59 63 68 71 82 92 94 96 101 104 112 117 117 124 135 141 147 159 174

Abkürzungen

AfO AO ARIT BASOR BBES BT GL GR G.W. JAOS JE JG

JKF JNES Jb

JRAS KS LVTL MAG MAIT MGJV MII ML OLZ OR PWRE

Archiv für Orientforschung Archiv Orientälni Aramaean Incantation Texts from Nippur Bulletin of the American Schools of Oriental Research Bulletin of the Brooklyn Entomological Society Babylonischer Talmud Linker Ginza Rechter Ginza Gesammelte Werke Journal of the American Oriental Society Jewish Encyclopaedia Jewish Gnosticism, Merkabah Mysticism and Talmudic Tradition Jahrbuch für kleinasiatische Forschung Journal of Near Eastern Studies Das Johannesbuch der Mandäer Journal of the Royal Asiatic Society Kirjat Sepher Lexicon in Veteris Testamenti Libros Mitteilungen der Altorientalischen Gesellschaft Mandaean Incantation Texts Mitteilungen der Gesellschaft für jüdische Volkskunde The Mandaeans of Iraq and Iran Mandäische Liturgien Orientalistische Literaturzeitung Orientalia Pauly’s Realencyclopädie der classischen Altertumswissen­ schaft. Neubearbeitet und herausgegeben von G. Wissowa

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Vorwort zur zweiten Auflage

Es dürfte wohl in erster Linie der Aktualität des Themas zu­ zuschreiben sein, wenn nach so kurzer Zeit bereits eine Neuauflage nötig wird. Diese erscheint im wesendichen in unveränderter Form. Seit der Veröffendichung der vorliegenden Studie wurden einige Arbeiten über das Lilith-Motiv publiziert. Wir erwähnen im speziellen nur die Arbeit von M. T. Colonna «Lilith or the black moon», er­ schienen im Journal of Analytical Psychology Vol 25 Nr. 4, p. 326ff., London, 1980. Im erwähnten Beitrag werden hauptsächlich die Selbständig­ keitsbestrebungen Liliths, ein Aspekt des Mythos, der im Midrasch des ben Sira geschildert wird, behandelt In diesem Zusammenhang ist es naheliegend, die Frage aufzuwerfen, ob der Lilith-Mythos mehr das Animaproblem des Mannes oder die Entwicklung des weiblichen Bewusstseins widerspiegelt. Da die uns vorliegenden jüdischen, gnostischen und islamischen Quellen ausschliesslich von Männern stammen, neige ich eher zur Annahme, dass hier eine Gestaltung der Anima-Problematik des Mannes im Vordergrund steht. Die Bedeu­ tung der Lilith für das weibliche Bewusstsein soll aber nicht bestritten werden. Zürich, Oktober 1983

Der Verfasser

I. Vorwort von Marie-Louise von Franz Obwohl heute immer wieder der Ruf nach interdisziplinärer wissenschafdicher Arbeit ertönt, wird er selten befolgt. Es ist eben schwierig, sich in mehr als einem Fache als kompetent zu erweisen. So leiden auch psychologische Arbeiten, wenn sie historisches Material berücksichtigen, oft an einer Unfähigkeit, das letztere seriös darzustellen. Und wenn Historiker psychologische Deutungen wagen, gehen sie selten über das Triviale hinaus. Es scheint mir deshalb ein grosses Verdienst von S. Hurwitz zu sein, dass er den Forderungen beider Disziplinen gerecht geworden ist. Seine psychologische Deutung der Träume und aktiven Imaginationen eines depressiven Mannes gehen in die Tiefe und seine Darstellung der Lilith als einer uralten mythologischen Veranschaulichung der negativen Anima als Männerverderberin, ist kompetent und gründ­ lich. Indem S. Hurwitz das Erleben eines modernen Mannes mit diesem historischen Material zusammenbringt, werden beide neu beleuchtet. Das ist der Sinn der Jung’schen Amplifikationsmethode. Dass hinter der Depression, der «saturnischen Melancholie», wie sie früher genannt wurde, ein unbändiger Lebensdrang verborgen liegt, der sich nicht assimilieren lassen will, scheint mir eine neue und wesentliche Erkenntnis zu sein. S. Hurwitz hat aber nicht nur dies, neben vielem Anderen aufgezeigt, sondern auch den Weg beleuch­ tet, wie ein Mann mit seiner «inneren Lilith» umgehen könnte, um aus der saturnischen Schwermut herauszufinden. So schenkt uns dieses Buch nicht nur Erkenntnisse, sondern auch Hilfe.

Erste bildliche Darstellung der Lilith Terrakotta-Relief aus Sumer ca. 1950 v.Chr.

A. Religionsgeschichtlicher Teil Das historische Material

Motto: Das Auge soll nicht nach Aussen blicken, Es treibe denn zugleich die Bilder mit aus. Sr. Eisbet Stagel vom Kloster Töss (14. Jahrh.)

II. Einleitung

Die vorliegende Arbeit stellt eine wesentlich erweiterte Fassung einer ursprünglich kurzen Monographie über das Lilith-Motiv in der jüdischen Tradition dar, welche im Anschluss an ein Traumbild eines meiner Analysanden entstand. Die Arbeit hatte sich im Laufe der Zeit durch Heranziehung von parallelem Vergleichsmaterial immer mehr ausgedehnt. Im Anschluss an die analytischen Gespräche stellte es sich heraus, dass es sich bei dieser Figur nicht um eine Gestalt aus der Bewusstseinswelt des Träumers handeln konnte, sondern dass hier ein allgemein verbreitetes, mythologisches Motiv vorliegt. Damit stellte sich aber auch die Frage, ob dieser Mythos noch lebendig sei und — falls dies zutreffen sollte — was für eine Bedeutung er für den heutigen Menschen besitze. In Berücksichtigung des wissenschafdichen Charakters dieser Arbeit erwies es sich als notwendig, einen entsprechenden wissen­ schaftlichen Apparat beizufügen. Dies bedingte eine Reihe von Studien verwickelter Probleme und Kontroversen aus dem Gebiete der Archäologie, der Assyriologie, der Epigraphik, der Gnosis usw. in welche mich dieses Thema unvorhergesehenerweise hineingezogen hatte. Eine weitere Schwierigkeit ergab sich aus der Art der Frage­ stellung. Da es sich um eine religionspsychologische Arbeit handelt, wurde das vorliegende Material aus der Mythologie, der Religions­

geschichte, der Legende, Folklore usw. sowohl vom historischen, wie vom psychologischen Standpunkt aus untersucht. Es besteht infolge­ dessen eine gewisse Gefahr, dass der vorzugsweise psychologisch interessierte Leser den Vorwurf erheben könnte, die Arbeit sei allzusehr mit religionshistorischem Material belastet. Auf der anderen Seite aber wird der Religionshistoriker möglicherweise einer psychologischen Interpretation des Materials mit einer gewissen Skepsis gegenüberstehen oder sie sogar ablehnen, und mich über­ dies des Psychologismus verdächtigen. Es dürfte schwierig, wenn nicht unmöglich sein, sich völlig aus diesem Dilemma herauszuhalten. Immerhin ist es das Anliegen der vorliegenden Arbeit, beiden Standpunkten einigermassen gerecht zu werden. Daher wird im religionshistorischen Teil das gesamte historische Material — soweit es mir zugänglich war — untersucht und jeweils ein historischer Kommentar beigefügt. Im psycholo­ gischen Teil wird der Versuch unternommen, einige psychologische Aspekte des Problems aufzuzeigen. Die aktuelle Bedeutung des Lilith-Mythos wird dadurch unterstrichen, dass in diesem Zusam­ menhang zwei Spontanmanifestationen aus dem Unbewussten eines modernen Menschen vorgelegt und kommentiert werden, in welchen Lilith erscheint. Das Lilith-Motiv hat eine ganze Reihe von literarischen sowie bildlichen Darstellungen erfahren, so — um nur einige wenige zu erwähnen — durch G. Apollinaire, R. Browning, A. L. Collier, M. Corelli, G. Flaubert, A. France, M. J. Erskine, R. Garnett, V. Hugo, I. Kurz, M. Magre, J. Milton, D. G. Rossetti, B. Shaw,J. Wedde und J. V. Widmann.1 Siebleiben in dieser Untersuchung unberücksichtigt, da ich mich auf die mythologischen und psychologischen Aspekte des Problems be­ schränke. Dazu kommt, dass die genannten Autoren in sozusagen allen Fällen nur den einen Aspekt des Lilith-Motivs behandeln, nämlich Lilith in ihrer Beziehung zum Manne, also jene Seite, welche die Psychologie C. G. Jung’s als die Anima zu bezeichnen pflegt. Alle anderen Wesensseiten, die Lilith insbesondere in der Legende und der Folklore ebenfalls besitzt, treten hier überhaupt nicht in Erscheinung. Dies dürfte in erster Linie damit Zusammenhängen, 1 A. M. Killen: La Legende de Lilith i. RLC Paris 1932 Vol. XII pag. 277fF (unvollständig)

dass es sich bei den genannten Schriftstellern — abgesehen von der einzigen Ausnahme I. Kurz — durchwegs um Männer handelt, die sich natürlich von diesem Aspekt der Lilith besonders angesprochen fühlen. Abgesehen von einem historischen Überblick in einem Artikel von G. Scholem2 fehlt bis jetzt eine wissenschaftliche Darstellung des Problems. Eine psychologische Deutung besteht meines Wissens bis jetzt überhaupt nicht. Vor allem stand bis jetzt eine Behandlung dieses Motivs vom Standpunkte der Frau aus. Erst vor kurzem ist eine Diplomarbeit aus dem C.G. Jung Institut, Zürich, von A. Lewandowski3 erschienen, welche das Problem des Gottesbildes als Quelle des Bösen behandelt, und die auch ein Kapitel über Lilith enthält. Die Autorin versucht hier in erster Linie das Animus-Problem im Zusammenhang mit dem Bösen herauszuarbeiten. Ausserhalb meiner Untersuchungen bleiben auch die Bezie­ hungen Liliths zur Königin von Saba und zum Dämonenfürsten Asmodai, da beide Motive bereits eingehend von G. Scholem4 behandelt worden sind. Kurz vor Abschluss dieser Arbeit wurde ich auf das Buch von R. Patai5 aufmerksam gemacht, welches ganz allgemein das Problem des Weiblichen im Judentum behandelt und welches — abhängig von den vorausgegangenen Arbeiten von G. Scholem — auch ein Kapitel über Lilith enthält. Da die Arbeit von R. Patai und die vorliegende Untersuchung teilweise das gleiche Quellenmaterial benützen, Hessen sich — namendich im Kapitel über Lilith in der jüdischen Mystik — gewisse Überschneidungen nicht ganz vermeiden. Hin­ gegen sind sowohl der Ausgangspunkt wie die Zielsetzung beider Arbeiten total verschieden. Während R. Patai das Lilith-Motiv ausschliesslich vom religionshistorischen Standpunkt aus behandelt, kommt es mir weniger darauf an, neue historische Zusammenhänge und Bezüge anzuvisieren. Das Anliegen dieser Arbeit besteht vielmehr darin, die archetypischen Hintergründe des Mythos auf2 G. Scholem: JE Jerusalem 1972 Vol. XI s. v. Lilith 3 A. Lewandowski: The God Image, Source of Evil. Zürich 1977 4 G. Scholem: Lilith u’malkat scheva i. Peraqim chadaschim m e’injenei Aschmedai ve’Lilith. TZ Jerusalem 1947/48 Vol. XIX pag. 165ff 5 R. Patai: The Hebrew Goddess. Forest Hills 1967 pag. 207ff

zuzeigen und die sich aus dieser Sicht ergebenden psychologischen Konsequenzen für den modernen Menschen herauszuarbeiten. Der historische Teil der Arbeit basiert hauptsächlich auf den Ergebnissen der modernen, religionshistorischen Forschungen von G. Scholem, während der psychologische Teil der analytischen Psycho­ logie von C. G. Jung, insbesondere seiner Lehre von den Struktur­ elementen der Psyche, den Archetypen, verpflichtet ist. Eine gewisse Kenntnis der Psychologie von C. G. Jung wird dabei vorausgesetzt. Dies gilt vor allem für den psychologischen Teil der Arbeit, namentlich für die Deutung der beiden Lilith-Begegnungen. Das zur Deutung der Träume, sowie des Lilith-Mythos überhaupt herangezogene Material aus der vergleichenden Religions­ geschichte, aus parallelen Mythen, Legenden und der Folklore mag bisweilen etwas weit hergeholt erscheinen. Indessen muss darauf hingewiesen werden, dass die Arbeiten von C. G. Jung und seiner Schule den Nachweis erbracht haben, dass die Methode der sog. Amplifikation — im Unterschied zu der von S. Freud angewendeten Methode der freien Assoziation — sich ganz besonders dazu eignet, eine Erhellung, Verdeutlichung und ein psychologisches Verständnis schwer deutbarer Träume zu vermitteln. Was aber im individuellen Bereich, nämlich für den Traum eines einzelnen Menschen gilt, hat gleicherweise auch Geltung für die kollektiven Inhalte des Unbe­ wussten, die sich in Mythen, Märchen, Legenden usw. äussern. Denn wie man den Traum eines individuellen Menschen als seinen individuellen Mythos bezeichnen kann, so ist der Mythos eines Volkes gewissermassen der Traum dieses Kollektivs.6 Diese von C. G. Jung entwickelte und von seinen Schülern7weiter ausgebaute Methode der Amplifikation, welche aus der allgemeinen 6 S. Hurwitz: Die Gestalt des sterbenden Messias i. Studien aus dem C. G. Jung Institut Zürich. Zürich 1958 Vol. VIII pag. l l f 7 M. L. von Franz: Die Passio Perpetuae. Versuch einer psychologischen Deutung i. C. G. Jung: Aion. Untersuchungen zur Symbolgeschichte. Zürich 1951 pag. 387fF (eigen­ ständige Ausgabe der Passio Perpetua in Vorbereitung, Zürich 1980) M. L. von Franz: Der Traum des Descartes i. Studien aus dem C. G. Jung Institut Zürich. Zürich 1952 Vol. III (Zeidose Dokumente der Seele) pag. 51 ff M. L. von Franz: Die Visionen des Niklaus von Flüe, Zürich, 1980 A.Jaffe: Bilderund Symbole aus E. T. A. Hoffmanns Märchen «Der Goldene Topf» i. C. G. Jung: Gestaltungen des Unbewussten. Z ü rich 1950 pag. 239ff E. Neumann: Die Grosse Mutter. Olten & Freiburg i. Br. 1976 pag. 27

Religionsgeschichte, der vergleichenden Mythenforschung, der Archäologie, der Prähistorie, der Ethnologie und anderen Wissen­ schaften paralleles Vergleichsmaterial heranzieht, ist ganz besonders geeignet, ein vertieftes Verständnis der Archetypen und der archetypischen Bilder, in welchen sich erstere manifestieren, zu ver­ mitteln. Sie ist infolgedessen nach C. G. Jung 8 in erster Linie «da am Platz, wo es sich um ein dunkles Erlebnis handelt, dessen spärliche Andeutungen durch psychologischen Kontext vermehrt und erweitert werden müssen, um verständlich zu werden.»

Bei der Methode der Amplifikation bestehen allerdings, genau so wie bei S. Freud's Methode der freien Assoziation, gewisse Gefahren: eine solche Gefahr besteht darin, dass durch eine ins Unendliche fortgesetzte Amplifikation bzw. Assoziation der Zusammenhang mit dem Ausgangspunkt, nämlich dem aktuellen Problem oder dem vorliegenden Text, schliesslich verloren gehen kann. Mit Recht hat daher E. Neumann9 darauf hingewiesen, dass im Anschluss an die Amplifikation immer auch eine Art Aktualisierung folgen müsse, bei welcher eine Bezugnahme zum Ausgangspunkt hergestellt wird. Ähnlich, wie in Kultus und Ritus ein Wiedererleben einer ein­ maligen, historischen Situation vermittelt wird, soll in der Aktuali­ sierung der Amplifikation das persönliche Moment mit dem arche­ typischen Hintergrund in Zusammenhang gebracht werden. Dabei genügt es aber nicht, dass das durch die Amplifikation gewonnene Material ausschliesslich intellektuell verstanden wird. Es muss auch emotional erlebt und nachvollzogen werden. Herrn Prof. G. Scholem, Jerusalem, bin ich für die Durchsicht und Korrektur des historischen Teils der Arbeit, sowie für zahlreiche mündliche und schriftliche Hinweise zu grossem Dank verpflichtet. Ebenso danke ich Dr. M. L. von Franz, Küsnacht, für die Korrektur des Manuskriptes sowie für ihre Bereitschaft, ein Vorwort für diese Arbeit zu schreiben. Herrn Prof. J. Naveh, Jerusalem, danke ich für seine Hinweise auf die Literatur über die Arslan Tasch Inschriften, Herrn 8 C. G. Jung: Psychologie und Alchemie. G. W. Olten & Freiburg i. Br. 1972 Vol. XII pag. 333 9 E. Neumann: Die mythische Welt und der Einzelne i. Kulturentwicklung und Religion. Zürich 1953 pag. 108f

Rabb. Dr. J. Teichmann, Zürich, für seine Mithilfe bei der Übersetzung von Textstellen aus dem Sohar, sowie Herrn R. Hinshaw für seine redaktionelle Arbeit.

III. Der Mythos und seine Geschichte 1. Der Doppelaspekt der Lilith Kein Motiv der jüdischen Mythologie ist — abgesehen vom Messias-Mythos — bis zum heutigen Tage derart lebendig geblieben wie der Mythos von Lilith. Innerhalb der Dämonenvorstellungen des Judentums nimmt Lilith eine zentrale Stellung ein, denn unter den zahlreichen Dämonen des Judentums ist sie weitaus die profilierteste Gestalt. Lilith ist, ihrer ursprünglichen Natur nach, eine archaische Göttin, die bei ihrem ersten Auftreten innerhalb der religions­ geschichtlichen Tradition zunächst nur einen einzigen Aspekt, nämlich denjenigen einer furchtbaren Mutter-Göttin aufweist. Doch hat sich dieser Charakter im Laufe der Entwicklung des Mythos verändert. Spätestens seit der talmudisch-rabbinischen und der griechisch-byzantinischen Tradition hat Lilith einen eigenartigen Doppelaspekt erhalten. Je nachdem, ob sie dem Manne oder der Frau gegenübertritt, erscheint mehr die eine oder die andere Seite. Dem Manne gegenüber tritt mehr der Aspekt der göttlichen Dirne oder — psychologisch gesprochen — derjenige der verführerischen Anima auf. Der Frau dagegen kehrt sie vor allem den Aspekt der furchtbaren Mutter heraus. Als Anima-Figur versucht Lilith, nicht nur

den ersten Mann, Adam, sondern noch heutzutage sämdiche Männer zu verführen. Denn nach einer alten Tradition in der jüdischen Mystik — der Kabbala — ist Lilith unsterblich. Sie wird erst am jüngsten Tage ihren Tod finden.1 Als furchtbare, verschlingende Mutter trachtet sie danach, schwangere Mütter zu schädigen und ihre neugeborenen Kinder zu rauben. Ständig ist sie auf der Lauer, das Kind zu töten, indem sie sein Blut trinkt und das Mark seiner Knochen aussaugt. Dieser Aspekt der Lilith kommt bereits in frühen Texten zum Ausdruck, in welchen sie als «die Würgerin» bezeichnet wird. Dass der Aspekt der göttlichen Dirne und verführerischen Anima historisch erst später auftritt, hat bestimmte, sowohl religions­ geschichtliche wie psychologische Gründe: Das Weibliche erscheint innerhalb der Bewusstseinsentwicklung zunächst immer in Gestalt der Grossen Mutter, welche eine bipolare, archetypische Gestalt ist, indem sie sowohl den Aspekt der gütigen, nährenden und hegenden, wie der furchtbaren, verschlingenden Mutter in sich enthält. Erst in einer späteren Phase des Bewusstseins wird aus der Mutter-Gestalt die Figur der Anima herausgelöst. Die Gestalt der Lilith, wie sie uns innerhalb des jüdischen Schrifttums entgegentritt, ist aber durchaus nicht eine ausschliesslich auf die jüdische Mythologie beschränkte Figur. Ihr Vorkommen lässt sich nämlich gleicherweise sowohl bei semitischen, wie bei nicht­ semitischen Völkern, also bei den Babyloniern, Assyrern, Juden und Arabern einerseits, wie bei den Sumerern und Hettitern andererseits, nachweisen. Aber einzig innerhalb der jüdischen Mythologie hat sich der Lilith-Mythos während mehr als zweieinhalb Jahrtausenden erhalten und hat sich auch weiter entwickelt. Ja, seine Ausstrah­ lungen lassen sich bis in die unmittelbarste Gegenwart hinein verfolgen: Noch heutzutage werden in den Wöchnerinnenstuben orthodox-jüdischer Familien, namendich im Osten und Süden, aus apotropäischen Gründen verschiedene Amulette aufgestellt, oder der Mutter und ihrem neugeborenen Kinde umgehängt, welche ihnen Schutz vor den gefährlichen Umtrieben dieser unheilbringen­ den und gefährlichen, dämonischen Gestalt gewähren sollen. 1 Sohar 1 55a

Die beiden Wesensseiten der Lilith erscheinen bereits im babylo­ nischen Schrifttum personifiziert, und zwar in den beiden Göttinnen Lamaschtü und Ischtar, aus denen sich die Gestalt der Lilith herauskristallisiert hat. Aus diesem Grunde habe ich sie als den Lamaschtü-Aspekt und den Ischtar-Aspekt der Lilith bezeichnet. Die babylonische Göttin Lilitü hat in der Folge innerhalb der jüdischen Tradition verschiedene, eigenartige Wandlungen erfah­ ren. Zunächst verlor sie ihren ursprünglichen, göttlichen Charakter und wurde zu einem farblosen, nächtlichen Wüstengespenst. Um zu einem tieferen Verständnis der Wandlungen der Lilith vorzudringen, erweist es sich als notwendig, zunächst einen kurzen Exkurs in die jüdische — und von da weiter zurückgehend — in die babylonische Dämonenlehre vorzunehmen. Von da ausgehend, werden dann die beiden gegensätzlichen Aspekte der Lilith beleuchtet werden. Innerhalb des jüdischen Schrifttums gehört Lilith zu den zahl­ reichen Dämonen, welche in der Bibel, im Talmud, und in der rabbinischen Tradition erwähnt werden. Aber auch ausserhalb des kanonischen Schrifttums, in apokryphen und pseudepigraphischen Werken, in den aramäischen Zaubertexten von Nippur, in der gnostischen und mandäischen Literatur, sowie später, innerhalb der jüdischen Mystik und im jüdischen Volksglauben nimmt Lilith einen wesentlichen Raum ein. Die Dämonen des Judentums treten unter ganz verschiedenen Namen auf. Bald werden sie als Geister (Ruchot), bald als Schädlinge (Masiqim) und bald als Zerstörer (Chabalim) bezeichnet. Man kann sie ganz allgemein unter dem Sammelnamen Schedim, sing. Sched, aramäisch Schida, d. h. Dämonen zusammenfassen. Schedim sind entweder gutartige und hilfreiche, aber noch häufiger Unheil stiftende und gefährliche Wesen. Meistens sind es männliche, gelegentlich aber auch weibliche Dämonen, welche dem Menschen begegnen und zu ihm in Beziehung treten. Hie und da sind es auch lediglich harmlose und gutartige Kobolde oder Poltergeister, welche den Menschen zu necken pflegen. Das hebräische Wort Sched lässt sich mit einiger Sicherheit auf das akkadische Wort Schedü zurückführen, das seinerseits dem sume­ rischen Aladü entspricht. Der Schedü in Babylonien ist ursprünglich

eine vorwiegend chthonische Gottheit, welche als Stier mit einem bärtigen Männerkopf verehrt wurde. Das Ideogramm für Stier und Schedü ist identisch. Gleichzeitig aber entspricht es auch demjenigen von Nergal, dem babylonischen Herrscher der Unterwelt und des Totenreiches, so dass man vermuten kann, dass der Schedü auch eine Beziehung zu den Totenseelen besitzt.2 Da der Schedü stets als geflügelter Stier dargestellt wird, ist anzunehmen, dass er neben seinem chthonischen auch einen geistigen Aspekt besass. Den männlichen Schedüs stehen die weiblichen Lamassüs oder Lamme, sumerisch Kal genannt, gegen­ über, die man sich in Sumer als geflügelte Kühe vorstellte. Im Gegensatz zu den eher negativen oder ambivalenten Schedüs sind die Lamassüs stets gütige und hilfreiche Wesen. Schedüs und Lamassüs waren am Palasttore des Königs Assurnazirpal aufgestellt und König Assarhaddon rühmte sich, nach seiner Thronbesteigung Schedüs und Lamassüs zur Rechten und Linken des Palasteingangs aufgestellt zu haben als Wächter über das Königshaus und als Schutzgötter für das assyrische Volk. Die Lamassü in Sumer wurde später in das babylonische Pantheon aufgenommen, wobei sie allerdings, wie die Schedüs gewisse Wandlungen erfuhr. Denn nunmehr wurde sie dämonisiert und als die grosse und furchtbare Mutter-Göttin Lamaschtü verehrt, die fast keine positiven Züge mehr besitzt. a) Der Lamaschtü-Aspekt

Lamaschtü ist eines der beiden Urbilder, welche die Gestalt der Lilith geprägt haben. Mit Lilith hat sie zahlreiche Züge gemeinsam. Beide haben es auf die schwangere, vor allem auf die in Wehen liegende Frau abgesehen. Sie versuchen, sie selbst zu schädigen und ihr das neugeborene Kind zu rauben und zu töten. Auf Amuletten werden beide Göttinnen nebeneinander genannt und beschworen, von Mutter und Kind abzulassen. Auf einem von St. H. Langdon3 veröffendichten Abdruck eines babylonischen Siegelzylinders aus 2 St. H. Langdon: Semitic Mythology i. The Mythology of all Races. Boston 1931 Vol. V pag. 358ff 3 St. H. Langdon: Babylonian and Hebrew Demonology with reference to the supposed borrowing of Persian Dualism injudaism and Christianity i. IRAS London 1934 pag. 50

dem Aeshmolean Museum in Oxford, der kurz darnach auch von B. Meissner4 beschrieben wurde, soll nach einer, von C. Frank5gegebenen

Deutung eine Geburtsszene abgebildet sein, in welchen eine in den Wehen liegende Frau von Dämonen bedrängt wird, die von der Lamaschtü angeführt werden. Von B. Meissner wird diese Inter­ pretation allerdings bestritten. Auf die engen Beziehungen zwischen Lamaschtü und Lilith haben bereits früher einige Autoren hingewiesen. Nach F. Perles6 scheinen sogar: «. . . im Bewusstsein der Juden überhaupt Lamaschtü und Lilith fast zusammen­ gefallen zu sein.»

Dies dürfte aber wohl kaum zutreffen, denn Lilith besitzt neben ihrem Lamaschtü-Aspekt auch noch andere Wesensseiten, welche der Lamaschtü völlig abgehen. Hingegen trifft es zu, dass im LilithMythos der Lamaschtü-Aspekt historisch älter ist. Aus diesem Grunde werden wir uns mit dieser babylonischen Göttin etwas näher beschäftigen müssen. Im Gegensatz zu anderen, häufig eher undeudich gezeichneten vorderasiatischen Gottheiten, ist die Göttin Lamaschtü eine durch­ aus scharf umrissene Persönlichkeit. Die beste Quelle für die Kenntnis dieser Gestalt sind die von D. W. Myhrman herausgegebenen sog. Labartu-Texte.7 Diese Texte sind in den letzten Jahrzehnten in mancher Beziehung verbessert und ergänzt worden. In diesen Quellen wird Lamaschtü stets als eine Göttin angerufen. Ihr Vater ist der babylonische Himmelsgott Anü, weshalb sie meistens einfach als «Tochter Anüs» bezeichnet wird. Sie ist die «Angenommene und Vertraute» der Irnina, einer Göttin, welche mit der sumerischen Innana und der babylonischen Ischtar verwandt ist. 4 B. Meissner: Neue Siegelcylinder mit Krankheitsbeschwörungen i.AfO Berlin 1935/36 Vol. X pag. 160 ff 5 C. Frank: Lamastü, Pazuzü und andere Dämonen. Ein Beitrag zur babylonisch-assy­ rischen Dämonologie i. MAG Leipzig 1941 Vol. XIV Heft 2 pag. 5 Anm. 1 6 F. Perles: Noch einmal Labartu im Alten Testament i. OLZ Leipzig 1915 Vol. XVIII pag. 179f 7 Die ältere Lesart La-bar-tu ist von der modernen Assyriologie allgemein aufgegeben worden.

In den Labartu-Texten heisst es:8 «Ihre Wohnung ist auf den Bergen oder im Schilfdickicht. Schrecklich ist ihr Aussehen. Ihr Haupt und ihr Gesicht ist das eines furchtbaren Löwen, blass wie Ton ist ihr Aussehen, eine Eselsgestalt hat sie, ihre Lippen giessen Speichel aus, sie brüllt wie ein Löwe, sie heult wie ein Schakal. Eine Hure ist sie. Furchtbar wild ist ihr Gemüt. Zürnend, ergrimmt, furchtbar, schrecklich, wütend, räuberisch, tobend, böse, arg, niederwerfend, zerstörend rückt sie heran. Grausam sind ihre Wirkungen. Wohin sie kommt, wo sie erscheint, bringt sie Übel und Zerstörung. Menschen, Tieren, Bäumen, Flüssen, Wegen, Gebäuden, verursacht sie Schaden. Ein fleischund blutfressendes Ungeheuer ist sie.»

In anderen Textstellen heisst es von ihr, sie habe es in erster Linie auf die schwangere Frau abgesehen, der sie das neugeborene Kind zu entreissen versuche. Schon vor der Geburt erscheint sie in der Wöchnerinnenstube, um der Frau das Kind aus dem Leibe herauszureissen. Dann quält sie erst das Kind «bald mit Hitze und Feuer, bald mit Fieber und Kälteschauern.»9 Den babylonischen Zauber- und Beschwörungstexten gegen die Lamaschtü, die in grösser Zahl erhalten sind, liegen Vorstellungen einös magischen Weltbildes zu Grunde. In der Magie sind beinahe immer zwei Elemente miteinander verbunden: einerseits Anrufun­ gen und Beschwörungen durch Worte des Zauberpriesters, der als Exorzist funktioniert, andererseits handelt es sich um gewisse magische Praktiken. In Babylonien unterschied man daher zwischen schiptü und epeschü und analog, in den griechischen Zauberpapyri, zwischen logos und pragma. Die magischen Praktiken bestehen meistens in einem, nach genauen Anweisungen durchgeführten Analogiezauber. In den LabartuTexten werden hierfür verschiedene Rezepte angegeben. So heisst es, man solle ein Tonbild der Göttin herstellen. Dieser Figur sollen zwölf Brote nebst anderen Speisen als Opfergabe vorgesetzt werden. Vor das Tonbild wird ein Bild eines schwarzen Hundes gestellt. Nach drei Tagen, in welchen die Göttin aus dem von ihr Verzauberten in die Tonfigur hinein gewandert ist, soll diese mit einem Schwert zer8 D. W. Myhrman: Die Labartu-Texte. Babylonische Beschwörungsformeln nebst Zauber­ verfahren gegen die Dämonin Labartu i. ZA Strassburg 1902 Vol. XVI pag. 148ff (Es handelt sich beim folgenden Text um eine Zusammenfassung von vier Textstellen) 9 D. W. Myhrman: 1. c. pag. 181

schlagen und in einem Winkel an der Stadtmauer vergraben werden, nachdem zuvor der ganze Bezirk mit Mehlwasser geweiht wurde.10 Zu den magischen Praktiken, welche eine Vertreibung oder Un­ schädlichmachung der Lamaschtü bezwecken, gehört auch die Bereitstellung eines Paares Sandalen, welche die Göttin über den Fluss oder das Meer tragen soll.11 Andere Rezepte empfehlen die Herstellung eines Schiffs durch den Priester, in welches das Bild der Lamaschtü, zusammen mit Bildern von schwarzen und weissen Hunden — Tieren, welche der Lamaschtü heilig sind — gebracht werden, in der Hoffnung, der Fluss werde das Schiff zusammen mit der Göttin für immer wegtragen.12 Andere magische Praktiken bestehen in der Herstellung von Amuletten. Diese bestehen aus verschiedenfarbigen Schnüren und Bändern, in welche Edelsteine eingewickelt werden. Sie werden dem neugeborenen Kind um Hals, Hände und Füsse gebunden und sollen es schützen. Zu den Anrufungen und Beschwörungen gehören ganz bestimmte Texte, welche der Priester in einer durch Tradition festgelegten Reihenfolge rezitiert. In den babylonischen Zauber- und Amulett-Texten wird Lamaschtü selten allein erwähnt. Meistens tritt sie mit einer Gruppe anderer, verwandter Götter oder Dämonen auf. In einem Be­ schwörungstext gegen die sog. Uttuke-Gruppe heisst es:13 «Ihn, gegen den sich der böse Uttukü warf, Ihn, den in seinem Bett der böse Alü zudeckte, Ihn, den der böse Etimmü in der Nacht überwältigte, Ihn, den der böse Gallü bedrohte, Ihn, dessen Glieder der böse Ilü zerriss, Ihn, den Lamaschtü beherrschte mit packender Hand, Ihn, den Labaschü überwältigte, Ihn, den Ahhazü festhielt usw.»

Von den erwähnten Dämonen sind Uttukü und Labaschü als Fieberdämonen bekannt, während Etimmü (andere Lesart: Ekimmü) eine Art Totengeist ist. Ahhazü bedeutet so viel wie Räuber, 10 11 12 13

D. W. Myhrman: D. W. Myhrman: D. W. Myhrman: H. C. Rawlinson:

1. c. pag. 161 & 195 1. c. pag. 149 1. c. pag. 150 Cuneiform Inscriptions of Western Asia. London 1861/84 V 51

Packer, Ergreifer, während Ilü die allgemeine Bezeichnung für einen Gott oder Dämon ist. Die einzelnen Dämonen der Gruppe lassen sich indessen nicht scharf voneinander unterscheiden, ja, man kann nicht einmal mit Sicherheit sagen, welches Geschlecht sie haben, was auf den archaischen Charakter dieser Vorstellung hinweisen dürfte. Einige sind weder männlich noch weiblich, einige haben im Laufe der Zeit ihr Geschlecht gewechselt. Manche erscheinen als blosse Wesens­ seiten der Lamaschtü. Was diesen Beschwörungstext besonders interessant macht, sind zwei Dämonen, die enge Beziehungen zu Lilith haben, nämlich Alü und Gallü. Alü ist ursprünglich ein geschlechtsloser Dämon, der aber später weiblichen Charakter angenommen hat. Alü ist ein Dämon ohne Mund, Lippen und Ohren, halb Mensch, halb Teufel. Er streift durch die nächdichen Strassen wie ein herrenloser Hund.14 Dann schleicht er sich in die Schlafzimmer der Menschen und erschreckt sie in ihren Träumen.15 Unter dem Namen Ailo tritt Alü auch in jüdischen Texten auf. In diesen ist er einer der geheimen Namen der Lilith.16 In anderen Texten wird Ailo aber auch als Tochter der Lilith bezeichnet, die sich mit einem Manne verbunden hatte. Dass sich Dämonen mit Menschen verbinden und mit ihnen Dämonenkinder hervorbrin­ gen, ist eine in sämtlichen semitischen Religionen vorkommende Idee. So kennt z. B. die vorislamische, arabische Dämonenlehre solche Verbindungen von Menschen mit den Djinns. Ebenso ist diese Vorstellung im Talmud und in der mandäischen Gnosis bekannt. Später wurde diese Vorstellung ins kabbalistische Schrifttum auf­ genommen. Nach kabbalistischer Auffassung besitzen nämlich Dämonen keinen eigenen Leib, weil vor dessen Erschaffung der Sabbat hereinbrach. Sie bedürfen zu ihrer Fortpflanzung eines menschlichen Körpers. Daher heisst es, dass sich Lilith der während 14 R. C. Thompson: The Devils and Evil Spirits in Babylonia. London 1903 pag. 37 15 G. Conteneau: La Magie chez les Assyriens et les Babyloniens. Paris 1947 pag. 90 16 J. A. Montgomery: ARIT. Philadelphia 1913 pag. 260

des Schlafes und des ehelichen Verkehrs austretenden Samentropfen bediene, um :17 . . auf diese Weise aus dem so ins Leere fallenden Samen einen Körper für sich zu erschaffen.»

In diesem Zusammenhang weist G. Scholem18 auf einen teilweise noch heute praktizierten kabbalistischen Ritus hin, der bei Begräbnissen in Jerusalem vollzogen wird: «Zehn Juden umtanzen im Rundgangden Toten und sprechen einen Psalm, der allgemein in der jüdischen Überlieferung als Abwehrpsalm gegen Dämonen aufgefasst wird.»

Es handelt sich offenbar um einen archaischen, apotropäischen Ritus, der sich gegen die mit Dämonen gezeugten Kinder des Verstorbenen richtet. Diese versammeln sich nämlich beim Tode ihres Erzeugers und verlangen ihr väterliches Erbe. Mitunter pflegen sie sogar die richtigen Kinder des Toten zu beschimpfen oder sie sogar tätlich anzugreifen. Dies war auch der Grund dafür, weshalb gewisse Kabbalisten des 16. Jahrhunderts es untersagten, dass die Söhne des Verstorbenen an seiner Bestattung teilnahmen.19 Ein anderer, weiblicher Dämon der Uttukü-Gruppe, der eben­ falls enge Beziehungen zu Lilith hat, ist Gallü. Gelegentlich wird dieser Name, ähnlich wie der Name Uttukü, auch einfach als allgemeine Bezeichnung für alle Dämonen verwendet und diese «böse Uttuke» oder «böse Galli» genannt:20 «Der Gallü, der Geist, der alle Häuser bedroht, Schamlose Gallüs, sieben sind es, Sie mahlen das Land wie Mehl, Sie kennen keine Gnade, Wüten gegen das Volk, Essen sein Fleisch, Lassen das Blut wie Regen fliessen, Unaufhörlich trinken sie Blut.» 17 G. Scholem: Tradition und Neuschöpfung im Ritus der Kabbalisten i. Zur Kabbala und ihrer Symbolik. Zürich 1960 pag. 202 18 G. Scholem: 1. c. pag. 202f 19 G. Scholem: 1. c. pag. 205 20 Cuneiform Texts from Babylonian Tablets in the British Museum London 1896 XVI 14

Auf Amulett-Texten werden bald Lamaschtü, bald Gallü und bald Lilith angerufen und beschworen. Gallü ist in der Folge als Gello, Gylo oder Gyllou in die griechisch-byzantinische Mythologie eingegangen, in welcher Gyllou ein kinderraubender und tötender weiblicher Dämon geworden ist. Als Gilu ist diese Gestalt auch in die jüdische Mythologie aufgenommen worden. Wie Ailo, bzw. Alü, so ist auch Gilu einer der geheimen Namen der Lilith. Der Glaube der Griechen an die Gylloudes ist nach B. Schmidt21 auch im heutigen Griechenland noch durchaus lebendig. Die babylonischen Zaubersprüche, welche entweder die krank­ heitsbringenden oder sonstwie schädigenden Dämonen vertreiben oder unschädlich machen sollen, müssen in einer genau festgelegten Reihenfolge über die einzelnen Glieder des Verzauberten rezitiert werden, damit sie wirksam werden. Denn Dämonen greifen jeweils immer nur einen bestimmten Körperteil an, so Uttukü die Schulter, Alü die Brust, Gallü die Hand, Assakü den Kopf und Namtarü die Kehle.22 Das Wissen um die Wirksamkeit der Dämonen und ganz besonders die Kenntnis ihrer geheimen Namen soll den Menschen Schutz vor ihren Umtrieben gewähren. Alle Zaubersprüche beginnen stets formelhaft mit dem Namen Schiptü, d. h. Beschwörung.23 Dann folgen die Anrufungen der ver­ schiedenen Dämonen oder der Wesensseiten eines bestimmten Dämons. Zum Schluss folgt die Aufforderung, wegzugehen. Von der Lamaschtü heisst es beispielsweise:24 «Schiptü. Lamaschtü, Tochter Anüs, ist ihre erste Beschwörung. Die zweite: Schwester der Götter der Strassen. Die dritte: Schwert, das den Kopf zerschmettert. Die vierte: Die das Holz anzündet. Die fünfte: Göttin, deren Gesicht schrecklich ist. Difc sechste: Anvertraute, Angenommene der Irnina. Die siebente: Bei den grossen Göttern sei beschworen: Mit dem Vogel des Himmels mögest du entfliehen.»26 21 B. Schmidt: Das Volksleben der Neugriechen und das hellenische Altertum. Leipzig 1871 pag. 139 22 B. Meissner: Babylonien und Assyrien. Heidelberg 1920 Vol. I pag. 391 23 Dies entspricht dem Wort Schifta in den aramäischen Zauberschalen 24 D. W. Myhrmann: 1. c. pag. 155 sowie die etwas abweichende Übersetzung bei M. Jastrow jun.: Die Religion Babyloniens und Assyriens. Giessen 1915 Vol. I pag. 335 25 Andere Lesart: Dolch, der den Kopf zerschlägt 26 Andere Lesart: Mit den Vögeln des Himmels

Ausser den Labartu-Texten wurden später von E. Ebeling21 eine weitere Reihe ähnlicher Zauber- und Beschwörungstexte heraus­ gegeben. Die Amulette gegen die Lamaschtü enthalten teilweise ebenfalls ähnliche Beschwörungen, teilweise zeigen sie bildliche Darstel­ lungen der Göttin. Ein Teil dieser Amulett-Texte wurde von F. Thureau-Dangin veröffentlicht. Seither sind eine ganze Reihe ähn­ licher Texte in den verschiedensten Museen aufgefunden und publiziert worden.28 Sie entsprechen meistens den bereits bekannten Schiptü-Texten. So heisst es von der Lamaschtü:29 «Furchtbar ist sie, ungestüm, ist sie, sie ist eine Göttin, schrecklich ist sie. Sie ist wie ein Leopard (?), die Tochter Anüs. Ihre Füsse sind diejenigen des (Vogels) Zu, ihre Hände sind schmutzig, ihr Gesicht ist das eines starken Löwen. Sie taucht aus dem Dickicht des Schilfrohres auf. Ihre Haare sind aufgelöst, ihre Brüste sind entblösst. Ihre Hände sind im Fleisch und Blut. Sie dringt durch das Fenster ein, sie schleicht sich ein wie eine Schlange. Sie tritt in das Haus ein, sie geht aus dem Hause wieder weg.»

Die Gestalt der Lamaschtü oder — wie sie auch genannt wurde — der Lammea, ist in der Folge als Lamia in die griechische Mythologie eingegangen.30 Lamia war nach der einen Version eine Königin in Phrygien, nach einer anderen Tradition eine Königstochter bei den Laistrygonen in Libyen. Sie wurde die Geliebte des Zeus, dem sie eine Reihe von Kindern gebar. Hera verfolgte sie aus Neid und Eifersucht und brachte ihre sämtlichen Kinder, mit Ausnahme der Skylla, um. Aus Gram darüber verlor Lamia ihre Schönheit und aus Neid gegenüber allen Müttern, welche Kinder besassen, versuchte sie, dieser Kinder habhaft zu werden.31 Sie hat die Fähigkeit, ihre Augen herauszunehmen, damit diese, wenn die Lamia schläft, immer wach bleiben und nach Kindern Ausschau halten können.32 Man stellte sich die Lamia vor als ein Wesen mit einem Schlangen­ leib und dem Kopf einer schönen Frau. Der Name Lamia bedeutete 27 E. Ebeling: Keilinschriften aus Assur religiösen Inhalts. Leipzig 1922 pag. 175 28 Museen in Berlin, Leiden, Kopenhagen, New York usw. 29 F. Thureau-Dangin: Rituel et amulettes contre Labartu i. RA. Paris 1921 Vol. XVIII pag. 161ff 30 W. H. Roscher: RO. Leipzig 1884/86 s. v. lamia 31 PWRE. Stuttgart 1931 Vol. II s. v. lamia 32 K. Kerenyi: Die Mythologie der Griechen. Zürich 1951 pag. 43

im Altertum, ähnlich wie Lilith, einerseits ein einzelnes Wesen, andererseits eine Vielzahl weiblicher, kinderraubender Dämonen. Nach B. Schmidt33 glaubt man in Griechenland noch heutzutage, dass «Wenn ein Jüngling, zumal ein wohlgestalteter, um Mittag oder Mitternacht am Strande singt oder die Flöte blasen lässt, die Lamia des Meeres aus der Tiefe emportaucht und denselben unter Verheissung eines glücklichen Lebens zu bewegen sucht, ihr Gatte zu werden und mit ihr ins Meer zu kommen. Weigert sich der Jüngling, so tötet sie ihn.»

Nach K. Kerenyi34 kommt die verschlingende Seite der Lamia auch in ihrem Namen zum Ausdruck, denn laimos bedeutet so viel wie Schlund oder Rachen. Gegen diese Auffassung spricht allerdings die Tatsache, dass die Herkunft des Namens vom sumerischen Lammea hinreichend gesichert ist. Verwandt mit der Lamia ist auch die Empousa. Wie die Lamia, so ist auch sie ein Gespenst aus der Umgebung der Hekate, mit welcher die beiden auch identifiziert wurden. Libanius35 berichtet, die Empousa locke durch ihren Liebreiz Menschen an, die sie dann töte und auffresse. Auch die Empousa lebt in Märchen und in der Folklore des heutigen Griechenland weiter.36. Eine der Lamia und der Empousa verwandte Gestalt ist die Mormo. Es heisst von ihr, sie töte und fresse sogar die eigenen Kinder, wie dies übrigens auch von der Lilith gesagt wird. Andere kinderstehlende Wesen der griechischen Mythologie sind die Stringes.28 In der Volksüberlieferung sind die Stringes Zau­ berinnen, welche:39 «des Nachts in Vogelgestalt zu den Wiegen der Kinder flögen und diesen das Blut aussaugen.»

Nach einer anderen Version sind es:40 «Frauen, welche des Nachts durch die Luft gefahren kommen, in die, wenn auch noch so fest verschlossenen Häuser eindringen und die kleinen Kinder erwürgen oder ihnen die Leber ausessen.» 33 34 35 36 37

B. Schmidt: 1. c. pag. 131 K. Kerenyi: 1. c. pag. 43f Libanius zit. b.: RO s. v. Empousa B. Schmidt: 1. c. pag. 141 J. Fontenrose: Python. A Study of Delphic Myth and its Origin. Berkeley & Los Angeles 1959 pag. 116 38 RO: s. v. Stringes 39 B. Schmidt: 1. c. pag. 136

Auch die Stringes leben als Strigais oder Striglais im heutigen griechischen Volksglauben, sowie in neugriechischen Märchen und Legenden weiter. Mit den griechischen Stringes hängen die Striges der römischen Mythologie zusammen. Auch sie sind kinderstehlende, blutsauge­ rische, weibliche Dämonen. Sie besitzen einen Vogelleib und den Kopf einer verführerischen Frau. Von ihnen heisst es bei Ovid:41 «Gierige Vögel sind sie, Sie fliegen nachts herum. Sie suchen Kinder, wenn die Amme abwesend ist. Diese tragen sie weg. Sie verderben ihren Körper mit ihren Krallen. Sie sollen die Eingeweide des Säuglings Mit ihren Krallen herausreissen. Ihren Schlund haben sie voll von dem Blut Das sie trinken. Striges ist ihr Name.»

In einer, von H. Grünwald42 zitierten, in jiddischer Sprache43 abgefassten Volkslegende aus dem Ende des 17. Jahrhunderts, welche auch in das kabbalistische Schrifttum Eingang gefunden hat, wird ein Engel, mit dem Namen Astaribo erwähnt. Dieser begegnet dem Propheten Elija. Ein ungefähr zur gleichen Zeit auftretender Amulett-Text berichtet analog von der Begegnung des Propheten mit Lilith. Auch Astaribo versucht, kleine Kinder zu erwürgen, ihr Blut zu trinken und ihr Fleisch zu fressen. G. Scholem44 hat nachgewiesen, dass der Name Astaribo richtigerweise als Astriga oder Striga zu lesen sei. Er ist der Auffassung, dass der Name Astaribo-Astriga-Striga sich ursprünglich von Hystera ableite, jenem Dämon, welcher dem Mutterschoss (hystera) gefährlich ist. In einer Marginalie zu einer Oxforder Handschrift aus dem 14. Jahrhundert, 40 41 42 43

B. Schmidt: 1. c. pag. 136 Ovid: Fastae 131ff H. Grünwald: MGJV. Hamburg 1898 Heft 5 pag. 48 Jiddisch ist eine Mischung von Mittelhochdeutsch und Hebräisch mit osteuropäischen Wörtern. 44 G. Scholem: Relationship between Gnostic andjewish Sources i. JG. Philadelphia 1965 pag. 27 Anm. 27 vgl. auch G. Scholem: Buchbesprechung von H. A. Winklers Buch: Salomo und die Karina i. KS Jerusalem. 1934/35 Vol. X pag. 72

welche Teile der früh-mystischen sog. Hechalot-Literatur enthält, ist folgender Vers enthalten:

«Schwarze Striga, schwarz über schwarz, Blut wird sie essen, Blut wird sie trinken. Wie ein Ochse wird sie brüllen, Wie ein Bär wird sie brummen, Wie ein Wolf wird sie erdrücken.»

Solche dämonischen Gestalten wie die Lamien und Striges erscheinen in der Mythologie fast aller Völker. Entweder handelt es sich um kinderraubende und blutsaugerische Wesen, oder sie erscheinen als verführerische Frauen. Es gibt Mythen, in welchen beide Aspekte zusamtnen Vorkommen. Dieses Motiv der kinderstehlenden Hexe und der verführeri­ schen Frau ist nämlich ein universal vorkommendes, d. h. arche­ typisches Motiv. Dies lässt sich ohne Schwierigkeiten nachweisen, da diese Vorstellung auch in weit auseinanderliegenden Kulturen auftritt, bei denen eine Beeinflussung durch Migration mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann. So hat W. W. Skeat45 auf die Vorstellung vom Langsuir, auch Langsuyar genannt, in Malaya hingewiesen, welche dort allgemein bekannt sein soll. Der Langsuir ist ein weiblicher Dämon, der entweder als räuberische Nachteule oder als verführerische Frau auftritt. Im Gegensatz zu den magischen Praktiken der Babylonier gegen die Lamaschtü, wird in Malaya empfohlen, den Langsuir zu fangen. Dann soll man seine überlangen Fingernägel abschneiden und das üppige Haar in ein Loch im Nacken zu stopfen. Dadurch wird der Langsuir nicht nur völlig zahm und «während vieler Jahre nicht von einer gewöhnlichen Frau zu unterscheiden». Diese Frau fällt durch ihre blendende Schönheit auf. Mitunter kommt es allerdings auch vor, dass sie ihre ursprüngliche Gestalt wieder annimmt und in den dunklen Wald zurückkehrt, aus dem sie einst zu den Menschen gekommen ist. Wenn eine solche Langsuir-Frau ein totes Kind zur Welt bringt, dann ist es — wie früher seine Mutter — ein Dämon in Gestalt einer Nachteule. Daher werden verschiedene magische Praktiken empfohlen, welche eine solche Totgeburt verhindern sollen. 45 W. W. Skeat: Malay Magic. London 1900 pag. 326 46 B. Grzimek: Grzimeks Tierleben. Zürich 1969 Vol VIII s. v. Eule

In diesem Zusammenhang ist es vielleicht von Interesse, einem linguistischen Problem nachzugehen, nämlich der Frage, wie und in welcher Bedeutung sich der Name Striga in den verschiedenen Sprachen erhalten hat. Der Zusammenhang zwischen den Motiven der Nachteule, der verführerischen Hexe und der Striga zeigt sich deudich, wenn wir die verschiedenen romanischen Sprachen mit­ einander vergleichen. In der Zoologie werden die Eulen allgemein als Strigiformes bezeichnet. Eine Unterabteilung sind die Eulen im engeren Sinne oder Strigidae. Zu diesen gehört der Kauz oder Strix, der kleinere Säugetiere rauben soll.46 Das Wort strega bedeutet im Italienischen47 so viel wie eine böse alte Frau oder Hexe, die mit dem Teufel im Bunde steht. Im Alt­ französischen** heisst das Wort estrie und bedeutet ein vampirartiges Wesen. Parallel dazu ist im Portugiesischen49 die estria eine Hexe. Sie entspricht der brujad. h. Hexe im Spanischen. ImRhätoromanischen50 — und zwar gleicherweise im ladinischen wie im surselvischen Idiom — lautet das Wort stria. Aber in sozusagen sämtlichen Sprachen bedeutet das Wort einerseits eine Hexe, andererseits eine räuberische Nachteule. Dies zeigt sich besonders deutlich im Italienischen, wo die strige «una famiglia di uccelli notturni», und im Rumänischen,51 wo striga eine Nachteule bedeutet. Aber auch in nichtromanischen Sprachen ist die Striga wohlbekannt. Im Balkan lautet ihr Name strygoi.52 Möglicherweise hängt auch der Name Sträggele im Schweizerdeutschen, der im Gebiet der mittleren Reuss, in den Kantonen Luzern und Aargau im Volksglauben belegt ist, mit der Bezeichnung Striga zusammen. Die Sträggele, die meistens zu­ sammen mit einem männlichen Begleiter, dem Thürst, auftritt ist eine Hexe, welche unfolgsame Kinder und faule Mädchen entführt.53 47 48 49 50

F. Palazzi: Novissimo Dizionario della Lingua Italiana. Milano 1974 s. v. strega bzw. strige A. Tobler & E. Lomatzsch: Altfranzösisches Wörterbuch. Wiesbaden 1952 s. v. estrie J. P. Machado: Dicionario Etimologico de la Lingua Portugues. Lisboa 1952 s. v. estria R. R. Bezzola & R. O. Tönjachen: Dicziunari tudais-ch-rumantsch ladin. Samedan 1944 s. v. Hexe R. Vieli & A. Decurtins: Vocabulari Romontsch-Sursilvan-Tudesg. Chur 1962 s. v. stria 51 H. Tiktin: Rumänisch-deutsches Wörterbuch. Bucuresti 1912 s. v. striga 52 Th. H. Gaster: Myth, Legend and Custom in the Old Testament. New York &: Evanston 1969 pag. 579 53 Schweiz. Idiotikon: Wörterbuch der schweizerischen Sprache. Frauenfeld 1952 s. v. StraggStrugg

Wir wollen uns im Folgenden zunächst mit dem eigenartigen Namen der Lilith beschäftigen. Der hebräische Name Lilith — aramäisch Lilitha — erscheint zum ersten Male in einem Fragment einer sumerischen Version des Gilgamesch-Epos, das von S. N. Kramer veröffendicht, übersetzt und kommentiert wurde. Der Text basiert auf Kopien, die ungefähr während der Isin-Larsa-Periode (ca. 1950—1700 vor Chr.) von einer Originalvorlage angefertigt wurde. Das Original selbst dürfte aber wesentlich älter sein, man nimmt heute an, dass es aus dem 4. vorchristlichen Jahrtausend stammt. Die sich auf Lilith beziehende Textstelle lautet folgendermassen:54 «Nachdem Himmel und Erde getrennt und der Mensch geschaffen war, nachdem Anü, Enlil und Ereschkigal Himmel, Erde und Unterwelt in Besitz genommen hatten; nachdem Enki für die Unterwelt Segel gesetzt hatte und das Meer zu Ehren seines Herrn raste und schäumte; an diesem Tage wurde ein Huluppu-Baum (wahrscheinlich ein Lindenbaum), der am Ufer des Euphrats gepflanzt und von seinen Wassern ernährt wurde, vom Südwind entwurzelt und vom Euphrat fortgetragen. Eine Göttin, welche dem Ufer endang wanderte, ergriff den schwankenden Baum und auf Geheiss von Anü und Enlil brachte sie ihn zu Innanas Garten in Uruk. Innana pflegte den Baum sorgfältig und liebevoll, sie hoffte, aus seinem Holz einen Thron und ein Bett für sich machen zu lassen. Nach zehn Jahren war der Baum gereift. Inzwischen fand sie zu ihrem Kummer, dass sie ihre Hoffnungen nicht verwirklichen konnte. Denn in der Zwischenzeit hatte ein Drache sein Nest am Fusse des Baumes gebaut, der Zu-Vogei hatte sein Junges in seine Krone gebracht und in der Mitte hatte die Dämonin Lilith ihr Haus gebaut. Aber Gilgamesch, der von Innanas Not hörte, kam ihr zu Hilfe. Er nahm seinen schweren Panzer, erschlug den Drachen mit seiner riesigen Bronze-Axt, die sieben Talente und sieben Minen wog. Da floh der Zu-Vogel mit seinem Jungen in die Berge, während Lilith, vor Schrecken erstarrt, ihr Haus niederriss und in die Wüste entwich.»

Der hier für Lilith verwendete Name lautet Ki-sikil-lil-la-ke,55 d. h. da Mädchen Lilith. Von ihr heisst es im Text weiter, sie sei ein «ständig kreischendes Mädchen» und eine «Erfreuerin aller Herzen». Aus der selben Zeit ist auch der Name ihres männlichen Begleiters, des Gottes oder Dämons Lil-la bekannt. Th.Jacobsen56 hat in seiner Arbeit über die sumerischen Königsnamen darauf hinge54 S. N. Kramer: Gilgamesh and the Huluppu-Tree. A. Reconstructed Sumerian Text i. Assyriological Studies of the Oriental Institue of the University Chicago. Chicago 1938 pag. lf 55 Ältere Lesart: Ki-sikilTilTa 56 Th.Jacobsen: The Sumerian King List. Chicago 1939 pag. 18 Anm. 37

wiesen, dass der Vater des Helden Gilgamesch Lil-lu (= Lil-la) hiess oder ein Lil-lu-Dämon war. Die Übersetzung zeigt nicht eindeutig, ob Lil-lu als Eigenname des Helden oder als Bezeichnung seines Wesens verwendet wird.57 In anderen sumerischen Texten wird neben Ki-sikil-lil-la-ke noch ein weiteres weibliches Wesen erwähnt, nämlich Ki-sikil-ud-da-karr a 5&

Die Bedeutung des Wortes Lil-la oder Lil-lu ist umstritten. Will man es vom Sumerischen ableiten — was wahrscheinlich richtig ist — dann bedeutet Lil-la eine Art Sturm- oder Wind-Gott. Will man dagegen einen akkadischen, also semitischen Ursprung annehmen, wie R. C. Thompson59 vorschlägt, dann bieten sich entweder La-lu d. h. Umherschweifen oder Lu-lu, d. h. Geilheit, Lüsternheit an. Trotzdem beide letzteren Eigenschaften vom Inhaltlichen her gesehen gut zu Lilith passen würden, dürften diese Ableitungen ausscheiden, denn die meisten der führenden Sumerologen nehmen fast allgemein an, dass Lil-la rein sumerischen Ursprungs sei. Ki-sikil-lil-la-ke bedeutet so viel wie: das Mädchen des Lil-la, seine Geliebte, Gefährtin oder Magd, während Ki-sikil-ud-da-kar-ra die Bedeutung hat: das Mädchen, welches das Licht gestohlen hatte oder sich des Lichtes bemächtigt hatte. Dass sich übrigens Lilith «des Lichtes bemächtigte» weist bereits auf den eher negativen Charakter dieser Gestalt hin. Ob es sich hier um eine echte, sumerische Götter-Triade handelt, wie von manchen Autoren angenommen wird, scheint mir sehr fraglich zu sein. Dagegen spricht vor allem, dass Götter-Triaden entweder ausschliesslich männliche Figuren enthalten, wie die altbabylonische Trias Anü-Bel-Ea. Tritt ein weibliches Element hinzu, wie in der babylonischen Triade Schamasch-Sin-Adad oder im Ägyptischen Osiris-Horus-Isis, so ist es stets in der Einzahl vorhanden. Eine Trias mit zwei weiblichen Elementen ist nicht nachweisbar. Hingegen kennt die Mythologie Triaden mit drei weiblichen Personen, so die Moiren, Graien und Erinyen. 57 Th. Jacobsen neigt eher zur Annahme, dass Gilgameschs Vater ein Lil-lu-Dämon war 58 St. H. Langdon: 1. c. pag. 358ff 59 R. C. Thompson: Semitic Magic, its Origin and Development. London 1908 pag. 66

Gegen die Annahme, dass hier eine echte Triade vorliegt, spricht im übrigen die Tatsache, dass die beiden weiblichen Figuren einander so ähnlich sind, dass sie kaum voneinander unterschieden werden können. Ich neige daher zur Annahme, dass «das Mädchen, welches sich des Lichtes bemächtigte», nichts anderes ist, als eine nähere Bezeichnung für das «Mädchen Ki-sikil-lil-la-ke». Diesen sumerischen Gottheiten oder Dämonen — der Übergang ist in den Texten fliessend — entsprechen im Akkadischen die Figuren Lil-lü, Lil-li-tü und Ardat-Lil-li. Es besteht auch hier eine Kontro­ verse, ob eine echte, babylonische Götter-Triade vorliegt. L Fossey, B. Meissner und O. Weber scheinen dies anzunehmen, während G. Conteneau dies verneint. Von Interesse ist die Bezeichnung Ardat-Lil-li. Ardatü bedeutet im Akkadischen ein Mädchen im heiratsfähigen Alter. Gelegentlich werden auch die Tempeldirnen im Heiligtum der Ischtar als ardatüs bezeichnet. In einem magischen Text heisst es, der kranke Mann sei von der Ardat-Lil-li ergriffen worden, was wohl besagen soll, er sei von ihr besessen. Von Lil-li-tü wird dagegen — allerdings nur an einer einzigen Stelle — gesagt, sie habe keinen Gemahl. Th. Jacobsen,60 der sich auf R. C. Thompson61 stützt, nimmt an, dass der ebenfalls in einer einzigen — nicht völlig gesicherten — Textstelle erwähnte Idlü-Lil-li das «männliche Gegenstück der Ardat Lil-li» sei, doch scheint mir diese Interpretation nicht überzeugend zu sein. Will man dagegen die oben erwähnte Hypothese akzeptieren, nach welcher Lil-li-tü und Ardat-Li-li identisch seien, dann könnte man letztere vielleicht als die mehr menschliche und damit bewusstseins­ nähere Seite der Lilith bezeichnen. Von Lil-lü ist nur wenige bekannt. Es heisst von ihm, dass er versuche, Frauen nachts im Schlafe zu stören oder zu verführen, während Li-li-tü Männern in ihren erotischen Träumen erscheine. J. F. Jean 62 zitiert einen akkadischen Text, in welchem es von der Ardat-Lili heisst: 60 Th.Jacobsen: 1. c. pag. 90 Anm. 131 61 R. C. Thompson: 1. c. pag. 66 62 J- F. Jean: Le peche chez les Babyloniens et Assyriens. Paris 1925 pag. 50

«Ihn, auf den Ardat-Lili ihre Augen geworfen hatte, Der Mann, den Ardat-Lili zu Boden geworfen hatte . . . Die Ardatü, auf die sich der Mann nicht wie auf eine Frau stürzte, Die Ardatü, die gegenüber dem Mann sich nicht geöffnet hatte, Die Ardatü, die vor ihrem Mann ihr Kleid nicht öffnete.»

In einem anderen Text, welcher die glückbringenden und unheilvollen Tage aufzählt, heisst es vom siebenten Tag:63 «An diesem Tage soll der Mann nicht die Terrasse seines Hauses besteigen, sonst wird ihn die Ardat-Lili zum Gemahl nehmen.»

Es wird immer wieder angenommen, dass der Name Lilith mit dem hebräischen Worte laila, d. h. Nacht, in Verbindung stehe.64 Diese Ableitung wird umso mehr nahegelegt, als Lilith tatsächlich als Göttin oder Dämonin der Dunkelheit betrachtet wurde. Auch die Rabbinen scheinen an einen solchen Zusammenhang gedacht zu haben. Denn sie stellten sich Lilith einerseits als verführerische Frau, andererseits als eine Art fliegenden Nachtmar oder ein eulenartiges Wesen vor. Diese Vorstellung ist bereits in Sumer belegt. Vom etymologischen Standpunkte aus lässt sich aber die Ableitung von laila nicht halten, ebenso wenig eine Beziehung zum assyrischen lilatü, wie dies F. Lenormant65 annimmt, das nicht Nacht, sondern Abend bedeutet. Abwegig ist die Annahme von R. P. Dow,66 der an das iranische lilang oder lilak, d. h. dunkelblau oder an das Sanskritwort nila, was Indigo bedeutet, denkt. Eine Beziehung zur indischen Göttin Lila, der Gattin Narayanas kommt schon aus historischen Gründen nicht in Frage, da der Vischnu-Glaube, in welchem diese Götter eine Rolle spielen, erst aus späterer Zeit stammt. Völlig falsch ist die Behauptung von M. Rudwin,61 dass Lilith überhaupt kein Eigenname, sondern nur eine Bezeichnung für weibliche Dämonen sei. Innerhalb der jüdischen Mythologie gehört Lilith — wie wir festgestellt hatten — zu der Gruppe der Dämonen oder Schedim. Wenn die Hypothese von W. F. Albright, Th. H. Gaster u. A. zutreffen 63 64 65 66 67

G. Conteneau: 1. o. Paris 1947 pag. 94 LVTS. Leiden 1953 s. v. Lilith F. Lenormant: La Magie chez les Chaldeens et les origines accadiennes. Paris 1874 pag. 36 R. P. Dow: Studies in the Old Testament i. BBES. Brooklyn 1917 Vol. XII pag. lff M. Rudwin: The Devil in Legend and Literature. Chicago & London 1931 pag. 95

sollte, dann lässt sich der Name Lilith bereits im siebenten vor­ christlichen Jahrhundert belegen. Den Charakter als Sched hat Lilith durch die ganze jüdische Tradition beibehalten. Zwar ist der ursprüngliche, göttliche Charakter dieser Schedim im biblischen Judentum nicht ganz verloren gegangen, bestand doch während langer Zeit neben dem JHW H Kult auch eine Opferstätte für die Schedim, obwohl die Propheten immer wieder versuchten, dagegen anzukämpfen und die Reinheit des JHWH Glaubens zu erhalten. Dies geht namendich aus der Textstelle im Deuteronomimum hervor:68 «Sie opferten den Schedim, die nicht Gott sind, Göttern, die aus der Umgebung gekommen sind, Von denen eure Väter nichts gewusst haben.»

Für die Propheten sind Herkunft und Aufenthalt in der Wüste das ständige Idealbild. Hier hatte sich das JHWH Bild am reinsten erhalten. Der Kult der Schedim wurde aus der «Umgebung», d. h. von den Kanaanäern übernommen, die ihn ihrerseits von den Babyloniern her kannten, bei denen die Schedüs höchste Verehrung genossen. Diese Schedim sind «nicht Gott», d. h. sie gehören nicht oder nicht mehr in den Umkreis JHW H’s, es sind aber Götter, die in Israel zu Dämonen degradiert wurden. Hier zeigt sich die in der ver­ gleichenden Religionsgeschichte überall feststellbare Tatsache, dass mit dem Aufkommen neuer Glaubensinhalte die alten Götter entwertet werden. So wurden — um nur ein Beispiel zu bringen — im späteren Zoroastrismus die altiranischen Gottheiten zu Daevas d. h. Dämonen. Wie in Kanaan, so wurden auch im alten Israel den Schedim Menschenopfer dargebracht:69 «Und sie opferten den Schedim ihre Söhne und Töchter.»

Solche Menschenopfer waren im ganzen Orient allgemein üblich. So wurden jeweils die Erstgeborenen als Opfergaben 68 Deut. 32, 17 69 Psalm 106, 37

dargebracht. Noch heute erinnert der Ritus «Die Auslösung des erstgeborenen Sohne» (pidjon ha ben) der Frau — nicht aber des Mannes, — vermittels einer Geldsumme an einen Priester, an die Hingabe an die Gottheit. Inwieweit sich die reale Opferung der Erstgeborenen auch im alten Israel durchzusetzen vermochte, ist umstritten. Die erwähnte Psalm-Stelle lässt immerhin eine solche Annahme, wenigstens für die archaische Periode, als möglich erscheinen. Hierfür sprechen im Übrigen auch die archäologischen Funde von R. A. St. Macalister in Gezer und von E. Sellin in Megiddo. Verwandt mit den Schedim und der Lilith sind auch die mehr indifferenten Se’irim. Diese Se’irim, singulär Sa’ir werden an zahl­ reichen Stellen des Alten Testaments erwähnt und häufig mit den Schedim identifiziert.70 Der Name Sair bedeutet zunächst «der Haarige» und, im übertragenen Sinne, den behaarten Ziegenbock.71 Es handelte sich offenbar um archaische Gottheiten, bocksgestaltige Wesen, ähnlich den Faunen und Satyrn. Sie halten sich vorzugsweise in der Wüste, an abgelegenen Orten, Ruinen und in vereinzelt stehenden Häusern auf, wo sie herumgeistern und tanzen.72Wie den Schedim, so wurden auch ihnen kultische Opfer dargebracht. Nach einer, allerdings nicht völlig gesicherten Lesart der Zürcher Bibel,73 gab es in Jerusalem sogar ein Heiligtum der Se’irim. Von ihnen heisst es:74 «Und sie werden ihre Schlachtopfer nicht mehr den Se’irim darbringen, hinter denen sie Unzucht verüben.»

Der alttestamentliche Ausdruck z-n-h (zoneh)75 bedeutet so viel wie Hurerei und Unzucht verüben und wird besonders im Zu­ sammenhang mit den Hierodulen, den kultischen Tempeldirnen verwendet, eine Institution, welche von Babylonien zu den Kanaanäern und von da her zeitweise auch in den Kult Israels 70 71 72 73 74 75

Targum zujes. 34, 14 LVTL: s. v. Sa’ir H. Duhm: Die bösen Geister im Alten Testament. Tübingen 8c Leipzig 1904 pag. 47ff Kg II 23, 8 Levit. 17, 7 J. Grasowky: Milon schimuschi la’sapha ha’ivrith. Tel Aviv 1937 s. v. z-n-h

Eingang fand. Der Kult der Se’irim geht noch aus einer anderen Bibelstelle deudich hervor:76 «Und er (König Jerobeam) hatte Priester bestellt für die Höhenheiligtümer und für die Se’irim und die Stierkälber, die er machen liess.»

Die an dieser Stelle erwähnten Stierkälber sind nichts anderes, als die nach der Reichstrennung im Nordreiche Israel verehrten Stier­ götter, die ihrerseits mit den Schedüs identisch sind. Auch gegen den Opferkult für die Se’irim erhoben sich die Propheten und Hosea stellt voller Entrüstung fest:77 «In Gilead haben sie Greuel verübt, In Gilgal haben sie den Se’irim geopfert.»

Zu den Schedim und Se’irim gehört neben Lilith auch der Wüstendämon Azäzel, dem am Versöhnungstage der mit den Sünden des Volkes beladene Ziegenbock vom Hohepriester ge­ schickt wurde.78 Die meisten Vertreter der alttestamentlichen Wissenschaft neigen zur Annahme, dass es sich hier um eine vorj ahwistische Gottheit handelte, die, wie die anderen Götter, zu einem Dämon geworden ist. Auch hier handelt es sich um eine Art Opferkult. Wie E. Neumann 79 nachgewiesen hat, stehen diese Opferkulte in den meisten Fällen im Dienste der Grossen Mutter-Göttin. Damit ist der Lamaschtü-Aspekt der Lilith und der Umkreis, in welchem diese ursprünglich archaische Göttin lebte, abgegrenzt und wir wenden uns einem anderen Aspekt dieser Gestalt zu. b) Der Ischtar-Aspekt der Lilith

Neben dem Lamaschtü-Aspekt der Lilith, d. h. neben ihrer Rolle als kinderraubender und -tötender Dämon und als furchtbare, verschlingende Mutter zeigt Lilith noch eine völlig andere Wesens­ seite, doch tritt dieser Aspekt erst in späterer Zeit in Erscheinung. Es 76 77 78 79

Chron. II 11, 15 Hosea 12, 12 Levit. 16, 5ff E. Neumann: Die grosse Mutter 1. c. pag. 187f

handelt sich um ihre Rolle als eine die Männer verführende und zur Unzucht verleitende Göttin, ein Wesenszug, der der Lamaschtü fast völlig abgeht. Dieser Aspekt personifiziert sich vielmehr in einer anderen babylonischen Göttin, der Ischtar. Da diese Göttin in der babylonischen Mythologie geradezu das Urbild der grossen Ver­ führerin ist, kann man auch von einem Ischtar-Aspekt der Lilith sprechen. Im Gegensatz zur Lamaschtü ist Ischtar nicht eine eindeutige und scharf umrissene Persönlichkeit. Sie ist viel unbestimmter, schillern­ der und hat, je nach der Gegend, in welcher sie verehrt wurde, verschiedenartige Züge angenommen. Auch sie hat Aspekte der grossen Mutter-Göttin, aber als Himmelskönigin ist sie der chthonischen Lamaschtü völlig entgegengesetzt. Vor allem aber ist sie im gesamten Orient die Göttin der sinnlichen Liebe, der Wollust und Verführung. Sie ist infolgedessen die Schutzgöttin der Dirnen, in erster Linie der kultischen Tempeldirnen — den Hierodulen — die in ihrem Dienste stehen. Auch Lilitü wird in einem babylonischen Text als Tempeldirne der Ischtar bezeichnet. Dieser Wesenszug findet sich bereits in älteren, sumerischen Texten, in denen es heisst,80 dass Innana — welche der babylonischen Ischtar entspricht — die unverheiratete, schöne und verführerische Dirne Lilith weggeschickt habe, um in den Strassen und auf den Feldern Männer zu verführen. Daher wurde Lilith auch als die «Hand der Innana» bezeichnet. Die im Dienste der Ischtar stehenden Hierodulen werden geradezu als ischtaritüs, d. h. der Ischtar Gehörende, bezeichnet. Auf der anderen Seite wird Ischtar selbst als qadischtü d. h. heilige Dirne genannt. Im alten Israel wurden die Tempeldirnen als qedeschot bezeichnete, d. h. Heilige. Ursprünglich bedeutete das hebräische Wort q-d-sch so viel wie abgesondert, nämlich aus dem profanen Bereich, und einem sakralen zugehörig. Daraus ergibt sich die sekundäre Bedeutung des Wortes für etwas Geheiligtes.81 Im Dienste der Ischtar fanden jeweils orgiastische Feierlich­ keiten statt. Herodot82 berichtet, dass sich in Babylon jedes Mädchen in 80 St. H. Langdon: Tammuz und Ischtar. Oxford 1914 pag. 74 81 LVTL: s. v. q-d-sch 82 Herodot: Hist. I 199

ihrem Leben einmal einem fremden Manne hingeben und ihre Jungfräulichkeit für eine Summe Geldes opfern musste. Es handelte sich dabei keinesfalls um eine Prostitution. Denn der Fremde stand offenbar stellvertretend für den Gott. Indem der Fremde mit ihr schlief, wurde dieser Vollzug zu einem hieros gamos (heilige Hochzeit), womit das Mädchen symbolisch zur Gattin des Gottes geweiht wurde. Verwandt mit der Ischtar als Dirne ist die, namentlich auf Zypern verehrte Aphrodite Parakyptusa, d. h. die Aphrodite, die aus dem Fenster pfeift, um Liebhaber anzulocken. Solche Darstellungen der Frau im Fenster haben im ganzen Orient weite Verbreitung ge­ funden. Bekannt sind vor allem die phönizischen Elfenbein­ schnitzereien, die in Arslan Tasch,83 Nimrud und Chorsabad aufgefunden wurden. In Babylonien wird die aus dem Fenster lehnende und nach Männern Ausschau haltende Göttin als Kilili muschirtü, d. h. die aus dem Fenster Lehnende, bezeichnet. Gelegent­ lich wird sie auch «Königin der Fenster» genannt. Eine weitere Parallele der verführerischen Dirne ist im Motiv der Frau auf dem Turm zu finden. Hier ist vor allem die Gestalt der Helena von Troja zu erwähnen, welche in der mittelalterlichen Volkslegende und der Folklore als eine höchst zweideutige, verräterische und män­ nerverführende Frau betrachtet wurde. Diese Auffassung geht zurück auf eine Version von der Eroberung Trojas, welche zwar bei Homer nicht berichtet wird, welche sich aber bei Vergil erhalten hat. In der Aeneis heisst es, dass84 «Helena in der Nacht, als die Griechen abgezogen waren, mit den trojanischen Frauen auf der Burg Orgien feierte: Sie hielt eine Fackel in der Hand, damit die Griechen das Leuchten des Zeichens aus der Ferne sähen und die Stadt angreifen würden.»

Diese Helena von Troja scheint später als Göttin verehrt worden zu sein. G. Quispel85 berichtet, dass 83 J. Gray: Mythologie des Nahen Ostens. Wiesbaden 1969 pag. 69 J. Thimme: Phönizische Elfenbeine in Karlsruhe i. Antike Welt. Zeitschrift für Archäologie und Urgeschichte. Feldmeilen 1973 Vol IV pag. 23 84 Vergil: Aeneis VI 517 85 *G. Quispel: Gnosis als Weltreligion. Zürich 1951 pag. 62

«bei den Ausgrabungen in Samaria die Statue einer stehenden Göttin gefunden wurde, mit einer Fackel in der Rechten: es war, wie durch die Anwesenheit der Attribute der Dioskuren festgestellt werden konnte, eine Statue der Helena, die also überraschenderweise in Samaria ihren Tempel, ihren Kult und ihre Verehrer hatte.»

Überraschend ist dieser Fund deswegen, weil die heterodoxjüdische Gnosis später Helena von Troja mit einer anderen Helena, nämlich der Gefährtin des Simon Magus aus Samaria identifizierte. Nach einem Bericht des Kirchenvaters Irenäus,86 der sich seinerseits aufJustinus Martyr87 beruft, hatte Simon Helena aus einem Bordell in Tyros geholt. Von den Schülern des Simon Magus scheint sie als «götdiche Dirne» und «gefallene Sophia» höchste Verehrung ge­ nossen zu haben. Von dieser Helena, welche nach Auffassung der Schüler Simons, eine Inkarnation der Helena von Troja war, heisst es bei Pseudo-Clemens :88 Als sie sich «. . . In einem Turm befand, war eine grosse Menge zusammengekommen, um sie zu sehen und stand von allen Seiten um den Turm herum. Aber allen Leuten kam es vor, dass sie durch alle Fenster sich dem Volk zeigte.»

Das Hinausschauen aus dem Turmfenster entspricht dem Pfeifen aus dem Fenster oder dem Hinauslehnen aus dem Fenster und galt seit jeher allgemein als eine Aufforderung an die Männer, sich von der Frau verführen zu lassen. Eine weitere Parallele des Ischtar-Aspektes ist in der deutschen Folklore des Mittelalters enthalten. A. Wuttke weist darauf hin, dass die Gattin Wotans, Freya, später zu Hulda oder Frau Holle wurde, die mit ihrer Eule im Hörselberg haust. Im Volkslied vom Tannhäuser wird sie schliesslich zur Frau Venus und der Hörselberg zum Venusberg. Hier versucht Frau Venus, Männer zu verführen und ihrem Dienst untertan zu machen. Kehren wir zur babylonischen Ischtar zurück. Neben dem Aspekt der Dirne und Verführerin des Mannes wurde Ischtar im ganzen Orient als Himmelskönigin kultisch verehrt und war unter dem 86 Irenäus: Adv. haer. I 23, 2ff 87 Justinus: Apolog. 26, 3 88 Pseudo-Clemens: Recognit. II 12

Namen Ata, Anat, Astarte oder Aschera bekannt. Als solche war sie auch im alten Israel bekannt, denn der Prophet Jeremija klagt;89 «Die Frauen lesen Holz auf und die Väter zünden das Feuer an. Die Frauen kneten den Teig, um der Himmelskönigin Kuchen zu backen und fremden Göttern spendet man Trankopfer.»

Eine grosse Anzahl bildlicher Darstellungen auf Reliefs und babylonischen Siegelzylindern zeigen die Göttin nackt, meist zusammen mit den beiden ihr heiligen Tiere, dem Löwen und der Taube. Es scheint, dass solche kleinen Ischtar-Fugurinen in jedem babylonischen Hause aufbewahrt wurden. Möglicherweise sind auch die in der Bibel erwähnten Teraphim oder Hausgötter90 solche Ischtar-Figuren, ebenso die dort genannten «fremden Götter.»91 Der Aspekt der Dirne und Verführerin bei der Ischtar kommt am eindrücklichsten im Gilgamesch-Epos zum Ausdruck. Durch ihre unwiderstehliche Schönheit und ihre listenreichen Verführungskünste gelingt es der Göttin, immer wieder Götter, Halbgötter, Menschen und sogar Tiere zu verführen und nachher zu verderben. Einzig Gilgamesch vermag sich den Werbungen zu entziehen, da er ihre Absichten durchschaut. Ja, erwägt es sogar, die Göttin als Strassendirne zu beschimpfen:92 «Gilgamesch tat seinen Mund zum Reden auf Und sprach zur fürstlichen Ischtar: Was muss ich dir geben (als Dirnenlohn), wenn ich dich nehme? Brauchst du Salbe für den Leib oder brauchst du Gewänder? Fehlt es dir etwa an Brot oder Nahrung?

Dann übergiesst er die Göttin mit Hohn und Spott: «Ein Ofen bist du, der das Eis nicht. . . Eine unfertige Türe, die Wind und Blast nicht abhält! Ein Palast, der niederschmettert den Helden. 89 90 91 92

Jerem.: 7, 8 vgl. auch 44, 17 Genesis 31, 19 Genesis 35, 4 A. Schott 8c W. v. Soden: Das Gilgamesch-Epos. Stuttgart 1958 (Tafel 6)

«Da du den bunten Vogel liebtest,93 Hast du ihn geschlagen, ihm die Flügel gebrochen, In den Wäldern weilt er nun ’Käppi’ (mein Flügel) rufend! Da den Leu du liebtest, den kraftvollkommenen, Grubst du ihm Gruben, sieben und abermals sieben. Da du liebtest das schlachtenfromme Ross, Hast ihm Peitsche du, Stachel und Peitschenschnur bestimmt, Sieben Doppelstunden zu rennen bestimmt, Da du den Hirten, den Hüter liebtest, Der ständig dir Aschenkuchen geschichtet, Täglich dir Zicklein geschlachtet hatte — Hast ihn geschlagen, in einen Wolf verwandelt. Da du liebtest Inschullanü, deines Vaters Palmgärtner, Der ständig dir Körbe voll Datteln brachte, Täglich prangen liess deinen Tisch — Erhobst du zu ihm deine Augen, gingst hin zu ihm: Mein Inschullanü, ach geniessen wir deine Kraft! Und deine Hand sei ausgestreckt, fass an unsere Blosse.»

Als der Gärtner versucht, sich den Liebeswerbungen der Göttin zu entziehen, kehrt sie ihre dunkle Seite hervor: «Hast du ihn geschlagen, in einen Verkümmerten verwandelt94 auch liessest du ihn wohnen inmitten Strapazen.»

Und mit grösser Bitterkeit stellt Gilgamesch fest: «Und liebst du mich, so machst du mich jenen gleich.» Nun könnte man einwenden, dass das Motiv der Verzauberung und Verwandlung in Tiere (Kirke-Motiv) eigendich eher in den Symbolkreis der Furchtbaren Mutter gehört. Auf dieses Problem soll später eingegangen werden.

93 A. Ungnad: Die Religion der Babylonier und Assyrer. Jena 1921 pag. 80 übersetzt hier statt «Vogel» «den Schäfer» 94 A. Ungnad: 1. c. übersetzt die Stelle: «Du schlugst ihn, verwandeltest ihn in eine Fledermaus»

2) Die Arslan Tasch Inschriften und das Bumey Relief a) Arslan Tasch I

Im nordöstlichen Syrien, in Arslan Tasch, wurde 1933 vom Comte du Mesnil du Buisson95 eine beschriftete Kalksteinplatte auf­ gefunden, welche sich jetzt im archäologischen Museum zu Aleppo befindet. Nach W. F. Albright96 stammt der Text aus dem 7. oder 8. vorchristlichen Jahrhundert. Er enthält einen in kanaanäischer (Andere: hebräischer, aramäischer oder phönizischer) Sprache und in assyrischer Quadratschrift abgefassten Beschwörungstext, der sich gegen eine geflügelte Göttin, oder — nach einer anderen Auffassung — gegen die Dämonen der Finsternis wendet. Die Platte ist an ihrem oberen Ende durchlocht. W. F. Albright nimmt daher an, dass sie als schutzgewährendes Amulett im Hause einer vor der Geburt stehenden Frau aufgehängt wurde. Hingegen ist es unwahrschein­ lich, dass sie der Frau oder dem neugeborenen Kind umgehängt wurde, da sie hierfür zu gross ist. Neben der Inschrift sind drei figürliche Darstellungen angebracht: auf der Vorderseite eine geflügelte Sphinx (Andere Deutung: ein geflügelter Löwe) mit einem Menschenkopf und einem spitzen Helm, darunter eine Wölfin mit einem Skorpionenschwanz, die im Begriffe ist, ein nacktes Kind zu verschlingen. Die Rückseite zeigt einen schreitenden Gott in assyrischer Tracht mit einer Doppelaxt und einem kurzen Schwert. Auf dem Kopf trägt er eine Art Turban mit einer Lilie, deren Bedeutung umstritten ist. Der vorliegende Text hat Anlass zu verwickelten Problemen der Epigraphik, der semitischen Linguistik und der Etymologie gegeben, auf welche ich nur am Rande eingehen kann. Die grössten Schwierigkeiten für die genaue Deutung des Textes ergeben sich aus dem in semitischen Texten allgemeinen Fehlen der Vokalisation, so dass Worte, je nach den eingesetzten Vokalen eine ganz verschiedene Bedeutung gewinnen können. Dieses Fehlen der Vokale ist im Übrigen auch der Grund, weshalb nicht immer mit Sicherheit 95 du Mesnil du Buisson: UneTablettemagique dela Region du Moven Euphratei. Melanges syriens offert ä Rene Dussaud. Paris 1939 Vol. I pag. 421 ff 96 W. F. Albright: An Aramaean Text in Hebrew from the seventieth Century B. C. i. BASOR. New Haven 1939 pag. 5ff

angegeben werden kann, ob ein Singular oder ein Plural vorliegt. Der Text — so wie er von du Mesnil du Buisson übersetzt wurde — enthält offensichtlich eine ganze Reihe von Fehlern. Doch sind seither verschiedene, neuere und teilweise auch bessere Über­ setzungen erschienen. Kurz nach der ersten Übersetzung hat A. Dupont-Sommer91 eine neue Version herausgegeben, doch ist auch diese nicht zuverlässig, da der Autor mit dem Text ziemlich will­ kürlich umgeht. Seine Ergebnisse, so einleuchtend sie in mancher Beziehung auch sein mögen, lassen sich daher vielfach nicht halten und werden von zahlreichen Autoren abgelehnt. Andere Übersetzungen scheinen genauer und zuverlässiger zu sein. Hierher gehören in erster Linie diejenigen von W. F. Albright98 sowie diejenige von Th. H. Gaster." Beide sind indessen nicht frei von spekulativen Hypothesen. Später hat H. Torczyner100 (Tur-Sinai) eine, von den vorausgegangenen Übersetzungen völlig abweichende Version gegeben, die aber ihrerseits den Mangel hat, dass sie das religionsgeschichtliche Vergleichsmaterial zu wenig berücksichtigt. Die zuletzt erschienene Übersetzung von W. Röllig101 lehnt sich wieder an diejenigen von W. F. Albright und Th. H. Gaster an. Da die Übersetzungen von W. F. Albright und Th. H. Gaster einerseits in den wesentlichen Punkten übereinstimmen, sich aber andererseits von der H. Torczyner Version im wesentlichen unter­ scheiden, lasse ich im folgenden die für unser Problem besonders interessanten Ausschnitte aus der Inschrift in beiden Varianten folgen. 1. Übersetzung: Th. H. Gaster «Beschwörung. Oh, du fliegende Göttin, Oh, S-s-m bn P-d-r-s-a, Sa, du Gott, 97 A. Dupont-Sommer: L’Inscription de l’amulette d’Arslan Tash i. RHR Paris 1939 Vol. CXX pag. 133ff 98 W. F. Albright: 1. c. 99 Th. H. Gaster: A Canaaitic Magical Text i. OR. Rom 1942 Vol. XI pag. 41 ff 100 H. Torczyner: A Hebrew Incantation against Night-Demons from Biblical Times i. JHES. Chicago 1947 Vol. VI pag. 18ff 101 W. Röllig: Die Amulette von Arslan Tash i. Neue Ephemeris für Semitische Epigraphik. Wiesbaden 1974 pag. 17ff

Und oh Würgerin des (der) Lammes (Lämmer): das Haus das ich betrete, Betrete nicht. Und in den Hof, in den ich eintrete, Tritt nicht ein. Oh du, die du fliegst in den (die) dunklen Kammern, Verschwinde sogleich, sogleich, Lilith. Räuberin, Brecherin der Knochen.

2. Übersetzung: H. Torczyner «Beschwörung der Ephata-Dämonen. Den Eid des S-s-m bn P-d-r-s-a Nimm auf den Eid. Und zu den Würgerinnen Sage: das Haus, das ich betrete, Betretet nicht. Und in den Hof, in den ich eintrete, Tretet nicht ein. An die Ephata-Dämonen in der Kammer der Finsternis Verschwindet, Schrecken, Schrecken meiner Nacht. Mit Olivenöl hast du gewaschen und er ist gegangen.»

Kommentar:

Bereits die Gegenüberstellung der beiden Übersetzungen zeigt alle Schwierigkeiten, mit welchen die Epigraphik sich hier kon­ frontiert sieht. Dies zeigt sich namentlich in jenen beiden Zeilen, die gerade für uns von Bedeutung sind. Wie die babylonischen Zaubertexte stets mit dem Worte Schiptü d. h. Beschwörung beginnen, so leitet auch hier das Wort L-h-s-t (lachaschat) den eigentlichen Text ein. Das Wort bedeutet ursprünglich so viel wie flüstern, da solche Zaubertexte nur flüsternd gesprochen werden durften. L-h-s-t ist der eigentliche terminus technicus, welcher den Beschwörungstext einleitet. Sowohl aus dem hebräischen wie aramäischen Schrifttum sind Parallelen bekannt. In Babylonien bedeutet der entsprechende Ausdruck Schiptü oder Mamaschtü ebenfalls flüstern, leise wispern. Was die im Text verwendete Bezeichnung Ephata (andere Lesart: Aphta) betrifft, so gehen die beiden Übersetzungen bereits weit auseinander. Schwierigkeiten ergeben sich daraus, dass nicht mit

Sicherheit festgestellt werden kann, ob es sich bei diesem Wort um ein aramäisches Partizip (fliegend) oder ein hebräisches Substantiv (Dunkelheit) handelt. Ebenso ist nicht eindeutig zu entscheiden, ob sich der Beschwörungszauber gegen eine fliegende Göttin oder Dämonin oder ganz allgemein gegen die Dämonen der Finsternis richtet. Th. H. Gaster nimmt an, dass mit Ephata bzw. Aphta eine nähere Bezeichnung einer Göttin gemeint sei. Er leitet das Wort Ephata vom hebräischen oph ab, was so viel wie «fliegen» bedeutet. Daher wird Ephata von W. F. Albright und Th. H. Gaster102 mit «die Geflügelte» oder «die Fliegende», von H. Donner & W. Röllig103 und ebenso von F. M. Cross & R. J. Saley104 mit «die Fliegerin» übersetzt. Demgegenüber lehnt H. Torczyner105 diese etymologische Ableitung von oph ab. Er führt das Wort Ephata vielmehr auf das hebräische Substantiv epha zurück, was Dunkelheit oder Finsternis bedeutet. Auch was die Deutung der drei Figuren betrifft, so bestehen kontroverse Auffassungen. Nach W. F. Albright, dem sich auch W. Fauth u. A. anschliessen, werden im Beschwörungstext nacheinander die auf der Platte abgebildeten Götter oder Dämonen beschworen. Nach ihnen entspricht die geflügelte Sphinx der «fliegenden Göttin», die Wölfin, welche das Kind verschlingt, entspreche der «Würgerin», während S-s-m bn P-d-r-s-a der schreitende Gott sei. Von du Mesnil du Buisson und A. Dupont-Sommer wird ein Gott namens S-s-m als Schutz­ gott eines P-d-r-s-a betrachtet, während Th. H. Gaster annimmt, dass P-d-r-s-a eine Ortsbezeichnung sei, was aber schon deswegen nicht stimmen kann, weil S-s-m ausdrücklich als ein Sohn des P-d-r-s-a bezeichnet wird. Auch über den Zweck der bildlichen Darstellungen ist man sich nicht einig. Der Brauch, Name und Bildnis von Göttern und Dämonen aufzuzeichnen, ist im ganzen Orient verbreitet. Ob der Anblick des eigenen Bildes die Dämonen erschrecken soll und sie dadurch veranlasst werden, wegzugehen, wie einige Autoren an-

102 Th. H. Gaster: 1. c. 103 H. Donner & W. Röllig: Kanaanäische und aramäische Inschriften. Wiesbaden 1966 pag. 44 W. Fauth: S-s-m bn P-d-r-s-a i. ZDGM. Wiesbaden 1971 Vol CXX pag. 229f 104 F. M. Cross & R. J. Saley: Phoenician Incantations on a Plaque of the seventieth Century B. C. from Arslan Tash in Upper Syria i. BASOR. New Haven 1970 pag. 42ff 105 H. Torczyner: 1. c.

nehmen möchten, scheint mir fraglich zu sein. Es ist wohl näher­ liegend, anzunehmen, dass sich der Gott oder Dämon durch den Anblick seines Bildes und das Aufzeichnen seines Namens erkannt fühlt. Denn sowohl Name wie Bild sind Ausdruck der Persönlich­ keit. Das Wissen der Namen und das Erkennen des Wesens soll vor den Umtrieben der Dämonen schützen. Bei den hilfreichen Göttern bedeutet das Aufschreiben ihrer Namen so viel wie eine Anrufung und Bitte um Hilfe. Das Aufzeichnen ihres Bildes ist eine Zur-SchauStellung der Macht des schützenden Gottes. Das folgende Wort H-n-q-t, welches als haniquta oder hanuqita gelesen werden kann, ist das entscheidende Wort des ganzen Textes. Es bedeutet zunächst nichts anderes als den Akt des Würgens, wird aber von beinahe allen Autoren auf Lilith bezogen und daher folgerichtig als «die Würgerin» übersetzt, was mit dem Kontext übereinstimmt. Im Assyrischen bedeutet hanäqu würgen, erdros­ seln. Denselben Wortsinn findet man im Aramäischen und Äthiopi­ schen.106 Eine Kontroverse besteht einzig darüber, ob im Text ein Singular oder ein Plural vorliegt. Vom grammatikalischen Stand­ punkt aus lassen sich beide Standpunkte vertreten. Das nachfolgende Wort A-m-r wird von W. F. Albright und Th. H. Gaster übereinstimmend mit imer, d. h. das Lamm übersetzt, so dass diese Textperikope mit «Würgerin des Lammes» übersetzt werden kann. Wenn auch die Bezeichnung imer für Lamm eher unge­ wöhnlich und selten ist, so lässt sie sich doch vertreten. Die Übersetzung «Würgerin des Lammes» würde auch mit der von du Mesnil du Buisson angeführten Parallele aus dem Arabischen über­ einstimmen, nach welcher der in einigen arabisch-mystischen Quellen erwähnte weibliche Dämon Karina Hanuq-al-amal, d. h. Würgerin des Widders genannt wird. Ganz ähnlich wird in einigen Ugarit-Texten107 von den Ilt-h-n-q-t-m, d. h. den würgerischen Göttinnen gesprochen. Und schliesslich sind noch einige Parallelen aus den von H. Gollancz108 herausgegebenen syrischen Handschriften 106 LVTL: s. v. h-n-q 107 W. Fauth: 1. c. pag. 51 108 H. Gollancz: The Book of Protection beinga Collection of Charms, now edited forthe first time from Syriac MSS. London 1912 pag. 68 & 84

zu erwähnen. Im Codex B wird von einer «Würgemutter der Knaben», im Codex C von einer «Mutter, welche Knaben und Mädchen erwürgt» gesprochen. Der Ausdruck «die Würgerin» ist seit der Inschrift von Arslan Tasch I zur ständigen Bezeichnung für Lilith geworden. Dies zeigt sich beispielsweise besonders deutlich darin, dass in der bereits von D. W. Myhrman edierten Variante, eines später von J. A. Montgomery edierten Textes nicht von «der Würgerin» gesprochen wird. In dieser Perikope wird anstelle dieser Bezeichnung direkt Lilith genannt. Für den Ausdruck «die Würgerin» existieren in der vergleichen­ den Religionsgeschichte und Mythenforschung eine Reihe von Parallelen, auf welche namentlich Th. H. Gaster109 aufmerksam gemacht hat. So berichtet er von einem bei den Hettitern ausgeübten Beschwörungszauber, in welchem eine Frau namens Hatiyah, einen weiblichen Dämon Wisuryanza beschwört. Das hettitische Wort visurya soll nach ihm wörtlich dem akkadischen hanaqü bzw. dem hebräischen Chaniquta entsprechen und ebenfalls «die Würgerin» bedeuten. In diesem Beschwörungszauber wird ein Bild dieser Göttin ans Ufer des Meeres gebracht, wo es mit reinem Wasser besprengt wird. Da in den Labartu-Texten ein analoger Zauberritus gegen die Lamaschtü beschrieben wird, ist eine Verwandtschaft der beiden Vorstellungen nicht von der Hand zu weisen. Am häufigsten findet sich indessen der Ausdruck «die Würgerin» in den aramäischen Zaubertexten,110 wo wiederholt von der Chaniquta gesprochen wird, welche «Kinder im Mutterschoss tötet». J. A. Montgomery übersetzt allerdings den Ausdruck Chaniquta irrtümlicherweise mit Aniquta, bzw. mit «Halsband-Geister» (necklace spirits), was keinefi Sinn ergibt.111 Auch in einigen griechischen Zaubertexten, welche von R. Reitzenstein112 veröffentlicht wurden, ist von einer Hexe Baskania oder 109 Th. H. Gaster: The Child-stealing witch among the Hettites i. SMSR. Bologna 1952 Vol. XXIII pag. 134ff 110 J. A. Montgomery: ARIT. Philadelphia 1913 pag. 238 (Schale 36) & pag. 146 (Schale 7), sowie pag. 154 (Schale 8). 111 H. Torczyner hat auf die richtige Lesart aufmerksam gemacht. 112 R. Reitzenstein: Poimandres. Studien zur griechisch-ägyptischen und frühchrisdichen Literatur. Leipzig 1904 pag. 295ff

Baskosyne die Rede, von welcher es heisst, sie sei eine in vielen

Gestalten auftretende Würgerin (polymorphe strangalia). Während der Ausdruck Würgerin unbestritten ist, wird das nachfolgende Wort A-m-r von H. Torczyner nicht mit imer, sondern mit emor übersetzt. Dies wäre ein Imperativ des Verbums A-m-r, was reden, sagen, sprechen, befehlen, bedeutet.113 Von Interesse ist auch die folgende, magische Formel:

«Das Haus, das ich betrete, betrete nicht, Und in den Hof, in den ich eintrete, Tritt nicht ein.»

Es scheint, dass diese Aufforderung eine allgemein verbreitete, stereotype Formel war, welche bei der Beschwörung von Dämonen die an der Schwelle von Haus und Hof herumtrieben, gesprochen wurde. H. F. Lutzlu hat einen ähnlichen, babylonischen Text veröffentlicht: «Meinem Körper sollst du dich nicht nähern, Du sollst nicht vor mir einhergehen, Du sollst mir nicht nachfolgen. Wo ich mich aufhalte, sollst du dich nicht aufhalten, Wo ich mich setze, sollst du dich nicht setzen. Du sollst nicht in mein Haus eintreten, Du sollst mein Haus nicht verzaubern. Du sollst deine Füsse nicht in den Abdruck meiner Schritte setzen. Wohin ich gehe, sollst du nicht gehen, Wo ich eintrete, sollst du nicht eintreten.»

Am meisten Anlass zu Kontroversen hat indessen jene Zeile gegeben, in welcher angeblich oder tatsächlich von Lilith gesprochen wird. Während Th. H. Gaster lesen will: «Verschwinde sogleich, sogleich Lilith,»

übersetzt H. Torczyner: «Geht weg, sogleich, sogleich, Schrecken meiner Nacht.» 1,3 LVTL: 1. c. s. a. a-m-r 114 H. F. Lutz: Selected Sumerian and Babylonian Texts. Philadelphia 1919 pag. 32., ähnlich auch L. Fossey: La Magie assyrienne. Paris 1902 pag. 201

Diese weitgehenden Differenzen der Auffassungen sind des­ wegen möglich, weil unser Text unglücklicherweise nicht das Wort Lilith, sondern lediglich Lili enthält. W. F. Albright und Th. H. Gaster und bereits früher du Mesnil ]d u Buisson sind übereinstimmend der Meinung, dass hier eine defektive Schreibweise vorliege, indem das th verloren gegangen sei. H. Torczyner dagegen hält das vorliegende Lili bzw. leli für eine Possessiv-Form des Kurzwortes lajil vom üblichen laila, d.h. Nacht, womit sich die Stelle übersetzt mit «meine Nacht». Dazu kommt, dass das Wort P-m von Th. H. Gaster als P-a-a-m gelesen wird, während es H. Torczyner mit P-o-e-m, d. h. Schrecken, übersetzen möchte. Diese sich auf Lilith beziehende Textstelle wird von den verschiedenen Autoren der Epigraphik auf unterschiedliche Weise übersetzt, so z. B. nach A. Dupont-Sommer:115 «Verjage, verjage die Lilin.»

Auch er nimmt also eine defektive Schreibweise an, wobei er den angeblich fehlenden Buchstaben nicht durch ein th, sondern wie schon vor ihm und nach ihm andere Autoren, es durch ein n ersetzen will. Lilin ist aber nichts anderes als der Plural von singulär Lili. Andere Autoren übersetzen dagegen: «Geh vorüber, Schritt für Schritt, Lilith», während F. M. Cross & R. J. Saley117 sich eher an die Übersetzung von H. Torczyner anlehnen und übersetzen: Geht weg, jetzt, jetzt, Nachtdämonen.»

Vom grammatikalischen Standpunkt aus lassen sich beide Übersetzungen einigermassen vertreten. Letztere beiden Autoren nehmen also wie W. F. Albright und Th. H. Gaster eine defektive Schreibweise an, wobei sie im Gegensatz zu H. Torczyner ein n zufügen, so dass das Wort Lilin lauten würde. Dabei sind sie — wie bereits früher S. W. Baron118 — der völlig irrigen Meinung, dass Lilin der

115 116 117 118

A. Dupont-Sommer: 1. c. pag. 133ff H. Donner & W. Röllig: 1. c. pag. 44 F. M. Cross & R. J. Saley: 1. c. pag. 42ff S. W. Baron: A Social und Religious History of thejews. Philadelphia 1958 Vol. II pag. 19

allgemein gebräuchliche Plural von Lilith sei, obwohl bereits I. Levi119 längst vorher daraufhingewiesen hatte, dass: «Lilin est et ne peut etre q’un pluriel masculin . . .‘Le pluriel de lilith serait liliatha . . . il en resulte, que les Juifs connaissaient ä la fois des lilin et une lilith.»

Diese Feststellung stimmt insofern, als Lilin niemals ein Plural von Lilith sein kann. Hingegen irrt I. Levi insofern, als er der Auffassung ist, dass die Juden nur eine einzige Lilith kannten. Offenbar waren ihm die kurz vorher erschienenen Texte von/. A. Montgomery noch nicht bekannt. In diesen Zaubertexten, sowie in verschiedenen, allerdings erst später edierten mandäischen Quellen, lässt sich nämlich ein Plural von Lilith ohne weiteres nachweisen, indem hier von verschiedenen Arten von Liliathas gesprochen wird. Der in unserer Textperikope verwendete Ausdruck M-b-z-t (mabezet) bedeutet nach Th. H. Gaster so viel wie Räuberin und, nach ihm, in diesem Zusammenhang nichts anderes als Kindsräuberin. Dies werde durch die nachfolgenden Zeilen nahe gelegt, in welchen von einer bevorstehenden Geburt die Rede sei. Diese Auffassung wird von W. F. Albright u. A. geteilt, während//. Torczyner sie bestreitet, der die Textstelle völlig anders lesen möchte. Der Ausdruck P-h-z-t (pachazat) bedeutet nach Th. H. Gaster «Brecherin oder Zerschlagerin». Gemeint seien die Knochen. Dieser Ausdruck lässt sich auch in den Labartu-Texten120 nachweisen, auf die sich Th. H. Gaster stützt, in denen es heisst, Lamaschtü sei das Schwert (andere Lesart: der Dolch), der das Haupt zerbreche. Nach L. Fossey121 wird auch von Uttukü, dem Dämon, der der Lamaschtü nahe steht, gesagt, er zerbreche das Haupt des Menschen. F. Pradel122 erwähnt in einigen mittelalterlichen Texten ebenfalls einen Dämon, welcher das Haupt des Menschen, den er anfällt, zerbreche und als eine «Brecherin der Knochen» wird eine kinderstehlende Hexe in ägyptischen Zauberpapyri erwähnt. 119 120 121 122

I. Levi: Lilit et Lilin i. REJ. Paris 1914 Vol. LXXVIII pag. 20 D. W. Myhrman: 1. c. pag. 155 L. Fossey: 1. c. pag. 397 F. Pradel: Griechische und süditalienische Gebete, Beschwörungen und Rezepte des Mittelalters. Giessen 1907 pag. 20

Was den Ausdruck «In den dunkeln Kammern» oder «In die Kammer der Finsternis» betrifft, so hat Th. H. Gaster123 darauf hingewiesen, dass dieser Ausdruck im akkadischen Sprachgebrauch die allgemein übliche Bezeichnung für «das Haus des Dämons» (bit assakü) sei. Die Dunkelheit scheint jedenfalls zum Wesen der geflügelten Göttin oder der Nachtdämonen zu gehören. Auch Lamaschtü und Lilith haben enge Beziehungen zu Dunkelheit und Nacht. Lamaschtü ist bekannt als die «Verdunklerin des Tages» und im Sumerischen ist Lilith das Mädchen, welches sich des Lichtes bemächtigte. In einem ägyptischen Zaubertext wird die kinderstehlende Hexe angeredet: «Du, die du in der Dunkelheit kommst», wie es andererseits von Lilith in einem der aramäischen Zaubertexte heisst, sie komme während der Dunkelheit. Auch der Talmud124 lehrt, dass ein Mann nicht allein in einem Hause (andere Übersetzung: in einem alleinstehenden Hause) schlafen dürfe, da er sonst von der Lilith überfallen werde. Schliesslich hat Th. H. Gaster125 darauf hingewiesen, dass das im Arabischen geläufige Wort für Dämon, nämlich Djinn, etymologisch mit Finsternis in Zusammen­ hang stehe. H. Torczyner hat mit philologischer Akribie seine Deutung durch zahlreiche linguistische Parallelen und Hinweise auf das jüdische Schrifttum zu untermauern versucht. Auf der anderen Seite haben W. F. Albright und Th. H. Gaster reiches Material aus der allgemeinen Religionsgeschichte und der vergleichenden Mythenforschung herangezogen, über welches H. Torczyner in den meisten Fällen hinweggeht. Aber gerade diese religionsgeschichtlichen Parallelen sind meines Erachtens derart überzeugend, dass ich mich, zusam­ men mit den neueren Spezialisten für semitische Epigraphik, wie z. B. H. Donner und W. Röllig eher der Auffassung der beiden genann­ ten Autoren anschliessen möchte. Wenn sich so die Auffassungen von W. F. Albright und Th. H. Gaster tatsächlich als richtig erweisen sollten, dann handelt es sich bei der geflügelten Göttin (Ephata oder Aphta) tatsächlich um eine der Lamaschtü nahe verwandte und mit der Lilith identische Gestalt. 123 Th. H. Gaster: 1. c. pag. 49 124 BT: Traktat Sabbat 151b 125 Th. H. Gaster: 1. c. pag. 49

Beide Göttinnen sind als kinderraubende geflügelte Göttinnen bekannt. Für Lamaschtü ist dies aus den Labartu-Texten ersichtlich, wo es heisst:126 «Mit den Vögeln (andere Lesart: Mit dem Vogel) des Himmels mögest du wegfliegen.»

Ebenso wird von ihr gesagt, sie besitze «Füsse des Zu», wobei in Sumer Zu als Sturmvogel bekannt war. Eindeutig geht ihr Vogel­ charakter aber aus der von S. N. Kramer127 herausgegebenen sume­ rischen Version des Gilgamesch-Epos hervor. Im Talmud128 wird ebenso von den «Flügeln der Lilith» gesprochen. So kontrovers Lesart und Deutung der Inschrift von Arslan Taschl auch sein mögen: Eines lässt sich mit einiger Sicherheit sagen. Es handelt sich um einen archaischen Beschwörungszaubertext, wel­ cher sich entweder gegen die geflügelte Göttin Lilith oder gegen die Dämonen der Dunkelheit richtet. Durch diese Beschwörung soll diese Göttin daran gehindert werden, Haus und Hof der gefährdeten Personen zu betreten. Alle Überlegungen im Zusammenhang mit den vorliegenden diversen Übersetzungen ergeben einen Kontext, der meines Erach­ tens den Schluss nahe legt, dass es sich hier mit grösser Wahrschein­ lichkeit tatsächlich um einen apotropäischen Zaubertext handelt, der sich gegen eine geflügelte Göttin richtet, die mit der Lilith identisch zu sein scheint. Ausschlaggebend für diese Hypothese ist die von keinem Autor bezweifelte Bezeichnung, «Würgerin.», welche in der nachfolgenden jüdischen und nichtjüdischen Tradition die allge­ mein bekannte Bezeichnung für Lilith geworden ist. b) Arslan Tasch II

Gleichzeitig mit der Inschrift von Arslan Tasch I wurde vom Comte du Mesnil du Buisson eine weitere, beschriftete Kalksteinplatte entdeckt, welche höchstwahrscheinlich aus der selben Zeit stammt,

126 D. W. Myhrman: 1. c. pag. 155 127 S. N. Kramer: 1. c. pag. 2 128 BT: Traktat Erubin 18b

wie die erste. Der Text wurde von ihm, gemeinsam mit A Caquot129 1971 veröffentlicht. Auch hier handelt es sich um einen gegen einen unbekannten Dämon gerichteten Zauber- und Beschwörungstext. Neben der Inschrift ist dieser Dämon selbst bildlich dargestellt. Er hält mit der linken Hand zwei Beine eines menschlichen Wesens, während die Hälfte des Kopfes und der übrige Körper von ihm bereits ver­ schlungen sind, ähnlich wie bei der Wölfin mit dem Skorpionenschwanz von Arslan Tasch I. Wie die erste, so wirft auch die zweite Inschrift einige Probleme der Epigraphik auf. Immerhin kann gesagt werden, dass die Stand­ punkte der verschiedenen Forscher in diesem Falle nicht derart weit auseinandergehen, wie bei der ersten Inschrift. Auch haben sich bis jetzt nur wenige Spezialisten der Epigraphik dazu geäussert. Der Inhalt des Beschwörungstextes ist für unser Problem irrelevant. Von Interesse ist für uns lediglich der Anfang des Textes. Auch er beginnt mit der stereotypen Formel: L-h-s-t (Lachaschat), d.h. Beschwörung, Anrufung. Der angerufene Gott oder Dämon ist aber hier weder die geflügelte Göttin, noch eine «Würgerin» oder ein schreitender Gott. Der Dämon, von dem wir nicht einmal wissen, ob er männlich oder weiblich ist — wird hier als M-z-h (mazach) bezeichnet. Dieser eigenartige Name ist für unser Problem deswegen von Interesse, weil es sich — falls es sich herausstellen sollte, dass es sich um eine weibliche Gestalt handelt — möglicherweise um eine der Lilith verwandte Figur handelt, auch wenn im Text selbst weder eine fliegende Göttin noch Lilith namendich erwähnt werden. Kommentar:

Die Deutung des Namens M-z-h ist bis jetzt noch nicht be­ friedigend gelöst. Als einigermassen gesichert kann aber gelten, dass die von A. Caquot gegebenen Ableitungen vom hebräischen nazah d. h. spritzen oder zehi d. h. glänzen, keinesfalls zutreffen können. Sowohl Th. H. Gaster,130 wie W. Röllig,131 welche die Inschrift erstmals

129 A. Caquot & du Mesnil du Buisson: La seconde Tablette ou «petite Amulette» d’Arslan Tas i. Syria. Paris 1971 Vol. XXXXVIII pag. 391ff 130 Th. H. Gaster: A Hang-Up for Hang-Ups. The second Amuletic Plaque from Arslan Tash i. BASOR. New Haven 1973 pag. 18ff 131 W. Röllig: Die Amulette von Arslan Tas i. Neue Ephemeris für Semitische Epigraphik. Wiesbaden 1974 Vol. II pag. 28

interpretierten, weisen auf einen Zusammenhang mit dem im Alten Testament132 erwähnten Wort M-z-o (mazo) hin. Allerdings bietet gerade die Erklärung dieses Wortes beträchtliche Schwierigkeiten, da es sich um einen hapax legomenon handelt und infolgedessen Parallelen aus dem übrigen jüdischen Schrifttum wegfallen. Das in der Deuteronomium-Stelle vorkommende M-z-h ist ein sogenannter Status constructus eines sonst nirgends vorkommenden Verbums M-z-h, und findet sich dort in Verbindung mit dem Substantiv r-a-a-b, d. h. Hunger. Offenbar handelt es sich um eine nähere Bezeichnung für einen Zustand des dem Hunger ausgelieferten Volkes. Dieses Verbum, bzw. der ihm entsprechende Status constructus wird von den Übersetzern verschieden übersetzt. E. Kautzsch & C. Weizsäcker übersetzen es mit «abgemagert», H . Torczyner mit «ausgemergelt», W. Gesenius mit «verzehrt, erschöpft», E. König mit «ausgesogen» und W. L. Holladay entsprechend mit «exhausted». Ausserdem führt W. Rölligu 3 einige Parallelen aus dem Akkadischen an, wo m-a-z-u-m sowie m-a-z-a-u-m so viel wie «auspressen» bedeuten soll, was mit den anderen Übersetzungen einigermassen im Einklang steht. Th. H. Gasteriu zieht Textstellen aus dem Aramäischen und Syrischen heran, wo das das entsprechende Wort aussaugen oder austrinken bedeutet. Nach diesem Autor handelt es sich daher um einen Dämon, der «ähnlich wie die Lamia oder Strix der klassischen Folklore, Blut und Mark seiner Opfer aussaugt.» Er verweist in diesem Zusammenhang auf den bekannten, mittelalterlichen Amulett-Text von der Begegnung Liliths mit dem Propheten Elija hin. Auf die Frage des Propheten, wohin sie gehe, antwortet Lilith:135 «Ich gehe zu dem Hause der Frau und zu ihrem Kind, das sie trägt, um es ihr zu nehmen, sein Blut zu trinken, das Mark seiner Knochen auszusaugen und sein Fleisch zu fressen.»

Es liegt daher für diesen Autor auf der Hand, dass es sich bei diesem Dämon ebenfalls um niemand anders als Lilith handeln kann, auch wenn Lilith nicht mit Namen genannt wird. 132 133 134 135

Deut.: 32, 24 W. Röllig: 1. c. pag. 30 Th. H. Gaster: 1. c. pag. 20 J. A. Montgomery: ARIT pag. 258 (Schale 42)

Wenn sich die Hypothese Th. H. Gasters tatsächlich als richtig erweisen sollten, dann wäre eine Identität von M-z-h- und Lilith nicht auszuschliessen. Indessen sind — im Gegensatz zu den Parallelen in Arslan Tasch I — seine Interpretationen nicht überzeugend. Gegen seine Deutung spricht vor allem die Tatsache, dass nicht mit Sicherheit gesagt werden kann, ob der erwähnte Dämon wirklich ein weibliches Wesen ist. Die genaue Deutung dieses Textes muss daher vorläufig offen bleiben. c) Das Burney Relief

In diesem Zusammenhang soll auf eine bildliche Darstellung einer geflügelten Göttin hingewiesen werden, deren ikonographische Interpretation Anlass zu zahlreichen Kontroversen unter Archäo­ logen und Kunsthistorikern geworden ist. Es handelt sich um eine, erstmals in der Illustrated London News vom 13. Juni 1936 er­ schienene Wiedergabe eines bisher völlig unbekannten, nach S. Burney genannten Terrakotta-Reliefs.136 Das Relief zeigt eine aufrecht stehende, nackte Göttin von aussergewöhnlicher Schönheit. Sie besitzt zwei grosse Flügel, überlange Vogelfüsse mit raubvogelartigen Krallen. Die Göttin trägt einen hohen, gewundenen Kopfputz, dessen Bedeutung noch nicht völlig geklärt ist. Sie steht auf zwei, in entgegengesetzte Richtung blickenden Löwen und wird von zwei, naturalistisch dargestellten Nachteulen flankiert, welche genau die selben Flügel und Füsse besitzen, wie die Göttin selbst. In den Händen hält sie zwei eigenartige Gebilde, welche nur zum Teil erhalten sind. H. Frank­ fort 137 deutet sie als «Ring und Stab», welche nach seiner Auffassung «die wohlbekannten Attribute der Götter» seien. Forscher, wie D. Opitz138 und G. Conteneau139 haben sich zur Frage der Deutung nicht geäussert, während E. D. van Buren140 überzeugt ist, dass es sich um eine geflügelte Ischtar handeln müsse. 136 Vgl. Titelbild 137 H. Frankfort: The Burney Relief i. AfO. Berlin 1937/39 Vol. XII pag. 129f 138 D. Opitz: Die vogelfüssige Göttin auf den Löwen i. AfO. Berlin 1936/37 Vol. XI pag. 353 D. Opitz: Die Probleme des Burney Reliefs i. AfO. Berlin 1937/39 Vol. XII pag. 269ff 139 G. Conteneau: 1. c. pag. 102 140 E. D. van Buren: An Enlargement of a given Theme i. OR. Rom 1951 Vol. XX pag. 60ff

Keine Kontroversen bestehen bezüglich des Alters und der Herkunft des Reliefs. Wie allgemein angenommen wird, ist es sumerischen Ursprungs und dürfte aus der sogenannte Isin-Larsa Periode, d. h. etwa um 1950 vor Chr. entstanden sein. Ein ähnliches Terrakotta wurde von E. D. van Buren141 im Louvre entdeckt. Die ebenfalls nackte Göttin trägt einen ähnlichen, gewundenen Kopfputz und hat die selben Flügel wie auf dem Burney Relief. Auch sie besitzt Vogelfüsse und ihre Beine tragen, von den Knien abwärts, Feder­ büschel. Die beiden Eulen fehlen auf diesem Relief und an Stelle der beiden Löwen steht die Göttin auf zwei, in entgegengesetzte Rich­ tung blickenden Steinböcken oder Wildziegen. Endlich wurden auch in Babylonien einige Fragmente zweier Tonreliefs aufgefunden. Sie zeigen eine geflügelte Göttin von der Hüfte an abwärts bis unterhalb der Knie. Sie steht auf zwei Löwen, deren Köpfe gut erkennbar sind. Im Übrigen sind aber diese Reliefs in einem schlechten Zustande. Wie auf dem Pariser Relief fehlen auch hier die Eulen. Dass Eulen in Sumer nicht unbekannt waren, zeigt die Auf­ findung einer schwarzen Hämatit-Figur aus Sumer.142 Auch Stein­ böcke dürften in jenem, von Gebirge durchzogenen Land nicht unbekannt gewesen sein. Die Berliner Eule ist aber, im Gegensatz zum Burney Relief sehr stilisiert und zeigt nicht die fein aus­ gearbeiteten Details der Eulen aus London. E. D. van Buren143 hat die Hypothese aufgestellt, dass die Göttin des Burney Reliefs eine Ischtar-Figur sei. Zur Stützung dieser Auffassung weist sie in erster Linie auf die Anwesenheit der beiden Löwen hin, welche bekannt­ lich, neben der Taube, zu den der Ischtar geweihten Tieren gehören. Sie zitiert ausserdem ein, von St. H. Langdon144 übersetzten, liturgischen Text, in welchem es heisse, dass Ischtar «über dem Himmel» fliege. Dieser Hypothese gegenüber müssen aber einige ernsthafte Einwände erhoben werden: 1) Es ist zutreffend, dass Löwen zu den Kulttieren der Ischtar gehören, wie aus zahlreichen Darstellungen in ihrem Werk über 141 E. D. van Buren: A further note on the Terra-cotta Relief i. AfO. Berlin 1936/37 Vol. XI pag. 354ff 142 Privatsammlung F. Hahn, Berlin 143 E. D. van Buren: 1. c. pag. 357 144 Der Text war mir nicht zugänglich

mesopotamische Tonfigurinen hervorgeht.145 Ebenso deutlich wird dies auch bei verschiedenen, gut erhaltenen, babylonischen Siegelzylindern. Ein Rollsiegel aus der P. Morgan Library, New York,146 zeigt eine nackte Ischtar auf einem von einem geflügel­ ten, feuerspeienden Löwen gezogenen Wagen, in welchem ein Gott (Adad oder Enlil?) aufrecht steht. In einem Siegelzylinder aus dem Oriental Institute, Chicago,147 steht die Göttin an der Seite eines Löwen. Ähnliche Rollsiegel und Reliefs aus dem sechsten bis achten vorchrisdichen Jahrhundert sind aus Assyrien bekannt.148 Demgegenüber muss aber eingewendet werden, dass Löwen nicht ausschliesslich zu den Kulttieren der Ischtar gehören. In Ägypten ist der Löwe das heilige Tier der Sachmet. Für den babylonisch­ assyrischen Kulturkreis hat H. Frankfort149 darauf higewiesen, dass Löwen auch anderen Gottheiten, wie Ningirsü und Schamasch, heilig sind. Ebenso hat auch Lamaschtü Beziehungen zu Löwen, wie aus den Labartu-Texten eindeutig hervorgeht.150 Die Anwesenheit der beiden Löwen kann aber schon deswegen nicht als Argument dienen, dass hier eine Ischtar-Darstellung vorliegen müsse, da ja die parallele Pariser Göttin auf zwei Steinböcken steht, die nie als der Ischtar heilige Tiere betrachtet wurden. 2) Innerhalb des sumerisch-babylonischen Kulturkreises existieren zwar eine Reihe von geflügelten männlichen und weiblichen Dämonen. Bildliche Darstellungen einer geflügelten Ischtar sind aber nicht bekannt. Eine geflügelte Göttin aus Yasilikaya ist aus dem Hettitischen bekannt. M. Riemschneider151 hat sie als eine geflügelte Ischtar gedeutet, doch dürfte es sich wohl eher um eine geflügelte Sausga handeln. Im Übrigen sind bis jetzt keine IschtarFiguren aufgefunden worden, in welchen die Göttin Vogelfüsse mit Raubvogelkrallen besitzt. Dies trifft übrigens auch auf die Sausga zu. 145 146 147 148 149 150 151

E. D. van Buren: Clay Figurines from Babyloniaand Assyria. London 1930 Fig. 130 8c 131 J. Gray: 1. c. pag. 18 J. Gray: 1. c. pag. 28 K. Sälzle: Tier und Mensch. Gottheit und Dämon. München 1965 pag. 352f H. Frankfort: 1. c. pag. 135 D. W. Myhrman: 1. c. pag. 148f M. Riemschneider: Die Welt der Hettiter. Stuttgart 1954 Tf. 42

3) Den Haupteinwand gegen die Hypothese von E. D. van Buren bilden indessen die beiden Nachteulen. Auch Eulen gehören nicht zu den Kulttieren der Ischtar. Eulen sind ausgesprochene Nacht­ tiere, die viel eher zu einer Göttin passen würden, die ihre Tätigkeit während der Nacht entfaltet. Obwohl Ischtar Bezie­ hungen zum Abendstern hat, so bestehen doch keinerlei Be­ ziehungen zu Eulen. Daher würden diese viel eher zu Lilith passen, die ja eine Göttin der Nacht ist. Daher ist auch E. G. Kraeling152 überzeugt, dass es sich um Lilith handeln müsse, welcher Meinung sich auch H. Frankfort153 anschliesst. Andererseits behauptet C. Frank154 «dass die Deutung als Li-li-tü, von der wir übrigens so gut wie gar nichts wissen, natürlich völlig unbewiesen noch beweisbar» sei. Auch er nimmt an, dass es sich um eine Ischtar-Figur handle, ohne allerdings diese Behauptung irgendwie beweisen zu können. Th. H. Gaster155 ist der Auffassung, dass die Göttin des Burney Reliefs niemand anders sei als die die geflügelte Göttin der Arslan Tasch I Inschrift. Insofern diese mit der Lilith identisch sein könnte, wäre seine Auffassung eine Bestätigung der These von E. G. Kraeling. Von geflügelten Wesen des babylonisch-assyrischen Kultur­ kreises bieten sich möglicherweise zwei Parallelen an, die in Erwägung zu ziehen sind. Die meisten Götter und Dämonen der babylonischen Mythologie — wie z. B. die Uttuke-Gruppe — besitzen nicht nur Flügel156 sondern auch «Füsse des Zu», also Vogelfüsse.157 Von geflügelten Gottheiten sind Pazuzü und Lamaschtü zu erwähnen. Pazuzü ist ein halb menschliches, halb tierisches Wesen mit Hundekopf und Menschenkörper.158 Seine Füsse sind mit Vogelfedern bedeckt und enden in Raubvogelkrallen.159 Allein er

152 153 154 155 156 157

E. G. Kraeling: A unique Babylonian Relief i. BASOR. New Haven 1937 pag. 16ff H. Frankfort: 1. c. pag. 135 C. Frank: 1. c. pag. 30 Anm. 5 Th. H. Gaster: A Canaaitic Magical Text i. OR. Rom 1942 Vol. XI pag. 46 C. Frank: 1. c. pag. 14 Anm. 1 E. Ebeling: Tod und Leben nach den Vorstellungen der Babylonier. Berlin & Leipzig 1931 pag. 5 158 S. Moscati: Geschichte und Kultur der semitischen Völker. Zürich 1955 Tf. 8 J. Gray: 1. c. pag. 27 159 St. H. Langdon: 1. c. pag. 371

scheidet schon deswegen aus, weil er in beinahe allen Texten als ein männlicher Gott erscheint. Eher in Betracht zu ziehen wäre Lamaschtü, deren Charakter als Vogel aus den Labartu-Texten hervorgeht. Im Übrigen gibt es magische Texte mit Anweisungen, ein «Bild der Lamaschtü» herzustellen, das mit Flügeln versehen sei.160 Ob es sich dabei um eine Tonfigur oder um ein Amulett handelt, geht aus dem Text nicht eindeutig hervor. C. Frank,161 der sich auf eine Arbeit von A. Falkenstein162 beruft, zieht einen magischen Text heran, in welchem von «Adlerkrallen» der Lamaschtü die Rede sein soll. Dies würde zu der von F. Thureau-Dangin163 erwähnten Textstelle passen, nach welcher Lamaschtü Vogelfüsse besitze. Aber auch die Annahme, es könnte sich bei der Göttin des Burney Reliefs um Lamaschtü handeln, lässt sich nicht aufrecht erhalten. Die Göttin unseres Reliefs hat einen menschlichen Kopf, der durchaus nicht furchterregend, sondern sehr anziehend, ja verführerisch wirkt. Demgegenüber heisst es von der Lamaschtü, sie habe das «Haupt eines Löwen» und ein «schreckliches Aussehen». Auf jeden Fall muss es sich bei der Göttin des Burney Reliefs um eine Göttin der Dunkelheit oder der Nacht handeln, was durch die Anwesenheit der beiden Eulen bestätigt wird. Aus diesen Gründen kann man tatsächlich, in Übereinstimmung mit E. G. Kraeling mit einiger Sicherheit annehmen, dass hier eine bildliche Darstellung einer geflügelten Lilith vorliegt.

3) Lilith in Bibel und Talmud Eine einzige Textstelle erwähnt Lilith im Alten Testament. In einer Vision des Propheten Jesaja vom Untergang der Feinde Zions, insbesondere Edoms, heisst es:164 «In seinen Palästen werden Dornen wachsen, Nesseln und Disteln in seinen Bergen, So dass sie eine Wohnstatt für Schakale werden, Und ein Gehöft für Strausse. 160 161 162 163

D. W. Myhrman: 1. c. pag. 155 C. Frank: 1. c. pag. 13f C. Frank: 1. c. pag. 14 F. Thureau-Dangin: 1. c. pag. 161

164 Jes.: 34, 14

Da stossen Wüstenwölfe auf Hyänen Und ein Sa’ir auf den ändern. Nur dort wird Lilith rasten Und findet eine Ruhestätte für sich.»

Kommentar:

Während in den von Sumer und Babylon her geprägten Vor­ stellungen Lilith eine Göttin aus der Umgebung der Lamaschtü und Ischtar war, ist sie im biblischen Schrifttum, zusammen mit anderen Spukgestalten, bereits zu einem farblosen Wüstengespenst gewor­ den. Ihre Existenz wird aber als allgemein bekannt vorausgesetzt. Th. H. Gaster hat die etwas gewagte Konjektur aufgestellt, nach welcher sich auch der männliche Lili bei Jesaja nachweisen lasse. Hier heisst es nämlich:165 «Ve’ha’elilim kalil jachaloph.»

Die Kontroversen, die sich aus dieser etwas unklaren Textstelle ergeben, erfordern eine kurze, textkritische Analyse der Perikope. Die Stelle wird gewöhnlich übersetzt:166 «Und die Götzen — das alles fährt dahin.»

Die Vorsilbe ve bedeutet so viel wie: und, während ha der bestimmte Artikel, sowohl singulär wie plural ist. Das Substantiv Ä ra ist ein Plural und leitet sich vom Singular El, d. h. Gott ab. Seine Verwendung hat an dieser Stelle eine ausgesprochen pejorative Bedeutung und meint Götzen. Eine Beziehung zu dem in Nippur verehrten Luftgott Elil, wie vermutet wurde, scheidet schon deswegen aus, weil dessen Name richtigerweise Enlil lautet. Elilim wird meist mit «Nichtigkeit» übersetzt. In ihren Bibelüberset­ zungen sprechen H. Torczyner von den «Nichtslein» und M. Buber etwas gezwungen von den «Gottnichtsen», während H. Wildberger in seinem Jesaja-Kommentar das Wort treffend mit «nichtige Wesen» übersetzt. Im Sinne von Götzen wird elilim auch an anderen Bibel­ stellen verwendet, so namentlich bei Jesaja167 und Ezechiel.168 165 Jes.: 2, 18 166 Übersetzung der Zürcher Bibel 167 Jes.: 10, 10 168 Ezech. 30, 13

Das Verbum jachaloph ist die Futurumform der dritten Person singulär des Wortes h-l-ph und bedeutet: vorüberziehen, Vorbei­ gehen. In diesem Sinne wird es verwendet im Zusammenhang mit einem Strom, der vorbeizieht169, oder vom Winde, der vorüber­ weht.170 Die Übersetzung von elilim und jachaloph ist nicht umstritten. Ebenso ist es sicher, dass sich jachaloph nur auf kalil, nicht aber auf elilim beziehen muss, da dies grammatikalisch völlig unmöglich wäre. Kontrovers ist die Bedeutung des Wortes kalil Das Wort leitet sich, wenn man die fast allgemein akzeptierte Übersetzung annimmt, vom hebräischen kol d. h. ganz, völlig, vollständig, ab. In diesem Sinne wird es an verschiedenen Stellen des Alten Testaments verwendet.171 Die allgemein üblichen Bibelübersetzungen dieser Textstelle sind zugegebenerweise nicht sehr befriedigend. Th. H. Gaster172 schlägt daher vor, das Wort kalil zu trennen in: ka d. h. wie, wie ein, und lil, das er für eine defektive Schreibweise von Lili hält, und übersetzt daher: «Und die Götzen — wie ein Lili, der vorüberflattert.»

Aber auch diese Übersetzung vermag nicht zu befriedigen. Die Hypothese ist sehr spekulativ und wird von den meisten Vertretern der alttestamendichen Wissenschaft abgelehnt. Die erwähnte Jesaja-Stelle setzt voraus, dass allgemein bekannt war, wer Lilith war. Über ihr Wesen, ihr Aussehen und ihre Tätigkeit wird nichts weiter gesagt. Erst spätere Kommentatoren der Bibel bezeichnen sie als einen weiblichen Dämon,173 als Tier, das in der Nacht schreit oder als Vogel, der herumfliegt.174 In ihrer Deutung scheinen sie offenbar vom Talmud beeinflusst zu sein. Im Übrigen assoziierten die Rabbinen, denen die Etymologie des Wortes Lilith 169 Jes.: 8, 8 170 Jes.: 21, 1 171 Ri. 20, 40 Ezech. 16, 14 172 Th. H. Gaster: 1. c. pag. 50 Anm. 1 173 S. Jizchaqi: Raschi z. Jes. 34, 14 174 D. Qimchi: Redaq z. Jes. 34, 14

nicht bekannt war, Lilith mit dem Worte laila, bzw. seiner Kurzform lajil, d. h. Nacht. In der talmudischen Literatur tritt aber ein neues Element auf: Lilith als verführerische Frau. Während bisher ausschliesslich der Lamaschtü-Aspekt in Erscheinung trat, kommt nunmehr auch der Ischtar-Aspekt zum Vorschein. Aber auch im Talmud wird Lilith als durchwegs negativ geschildert. Dass Lilith in der talmudisch-rabbinischen Tradition als derart gefährlich und dämonisch empfunden wurde, hat sowohl historische wie auch psychologische Gründe. Es hängt in erster Linie mit der patriarchalen Einstellung des talmudisch-rabbinischen Judentums zusammen, in welcher das Weibliche stets als etwas Bedrohendes empfunden wird. Daher wird in der jüdisch-chrisdichen, abendlän­ dischen Kulturentwicklung das Weibliche aus einer gewissen Ab­ wehrstellung heraus nicht nur entwertet, sondern geradezu dämonisiert. Über die psychologischen Konsequenzen dieser Ein­ stellung wird später gesprochen werden. Im Übrigen berichten sowohl der Talmud, als die erzählenden Midraschim jener Zeit nur wenig über Lilith. Immerhin wird auch hier ihre Existenz als allgemein bekannt vorausgesetzt. Ihr dämonischer Charakter kommt aber deutlich an verschiedenen Textstellen zum Ausdruck, so z. B.:175 «R. Jirmija ben Eleazar sagte: Alle die Jahre, während welcher Adam, der Urmensch, im Banne war (gemeint ist jene Zeit von 130 Jahren, zwischen dem Tode Abels und der Geburt Seths, in welcher er sich von Eva fernhielt), zeugte er Geister, Dämonen und Lilin.»

An einer anderen Talmudstelle heisst es:176 «R. Jirmija ben Eleazar sagte: Sie (gemeint sind die Menschen, welche den Turm zu Babel zu bauen versuchten) teilten sich in drei Gruppen . . . Diejenigen, die sagten: Kommt, wir wollen hinaufsteigen und Krieg (gegen Gott) führen, wurden (verwandelt in) Affen, Gespenster und Lilin.»

Von den Lilin sagt der Kommentator S. Jizchaqi:177 dass sie einen menschlichen Körper hätten, aber geflügelt seien.

175 BT: Traktat Erubin 18b 176 BT: Traktat Sanhedrin 109a

177 S. Jizchaqi z. Sanhedrin 109a

In einem Talmud-Traktat wird ein der Lilith verwandter, weib­ licher Dämon namens Agrat, die Tochter der Machlat, erwähnt, der ebenfalls Menschen zu erwürgen versuche und der von manchen Autoren mit der Lilith identifiziert wurde:178 «Gehe nachts nicht allein aus. Es wird nämlich gelehrt: In den Nächten des Mittwoch und Sabbat (die als nefaste Zeiten galten) gehe nicht aus, weil dann Agrat, die Tochter der Machlat mit 18 Myriaden Würgeengeln herumstreift, von denen jeder einzelne mit Würgen in Beziehung ist.»

Zu jenen Stellen, in denen Lilith eher als verführerische Frau geschildert wird, gehört ein Text, der vom langen Haar und den Flügeln der Lilith spricht.179 Ein anderer Text sagt:180 «R. Chanina sagte : Man darf nicht in einem Hause allein (andere Übersetzung : in einem alleinstehenden Hause) schlafen, denn wer in einem Hause allein schläft, wird von der Lilith überfallen.»

In der späteren, rabbinischen Tradition spielt Lilith die Rolle einer Succuba, welche Adam besuchte und jeweils Kinder mit ihr zeugte. Im syrischen Baruchbuche,181 einem apokryphen Werk, das unge­ fähr zur Zeit Christi verfasst wurde, wird Lilith ebenfalls an einer Stelle erwähnt: «Ich will die Sirenen vom Meere rufen, Die Liliths, die aus der Wüste kommen, Und die Schedim und Tannim aus den Wäldern.»

Die an dieser Stelle erwähnten Sirenen sind mit den Striges der griechisch-römischen Mythologie verwandt. Wie diese besitzen sie den Kopf einer verführerischen Frau, während ihr Leib entweder die Gestalt eines Vogels oder, nach anderen Darstellungen, eines Fisches 178 179 180 181

BT: Traktat Pessachim; Midrasch Num.rabba 12, 1 BT: Traktat Nidda 24b; Traktat Erubin 100b BT: Traktat Sabbat 151b R. H. Charles: The Apocrypha and Pseudepigrapha of the Old Testament. London 1913 Vol. II pag. 485

besitzt. Der Sage nach waren die Sirenen die Töchter des Flussgottes Achelaos und der Nymphe Kalliope. Noch heute glaubt man in Griechenland :182 «dass die Sirenen am Parnassos die Schiffer in Sturmesnöten durch ihren bezaubernden Gesang betören. In der Hoffnung auf nahe Rettung steuern die Unglücklichen nach der Richtung hin, aus welcher die lieblichen Töne erschallen. Aber je näher sie zu kommen vermeinen, desto mehr entfernen sich die trügerischen Stimmen und so werden sie weiter und weiter gelockt, bis sie endlich untergehen.»

4) Das Testament Salomos: Obyzouth Ungefähr zwischen dem dritten und vierten nachchristlichen Jahrhundert183 entstand eine Schrift, welche als Testament Salomos bezeichnet wird.184 Es handelt sich um ein in griechischer Sprache abgefasstes, pseudepigraphisches Werk, das in einer christlich überarbeiteten Version erhalten ist. Nach den meisten Autoren, wie zum Beispiel F. C. Conybeare handelt es sich um eine Schrift jüdischen Ursprungs. Nach G. Scholem185 geht sie mit Sicherheit auf Vor­ stellungen der jüdisch-hellenistischen Magie zurück. Im Testament Salomos überreicht der Erzengel Michael dem König Salomo einen Zauberring, welcher ihm Schutz vor allen Dämonen gewähren soll. Salomo fragt sämdiche Dämonen, denen er begegnet, nach ihrem Namen und nach dem Engel, dem der Dämon untersteht, und dem er zu gehorchen hat.186 In diesem Werk wird Lilith nicht mit Namen erwähnt. Aber es wird eine, mit ihr sehr eng verwandte, oder wahrscheinlich identische Figur namens Obyzouth beschrieben. Es heisst von ihr:187 ((Und es kam zu mir ein Weib dem Gesichte nach, die Gestalt samt den Gliedern mit den Haaren, die sie gelöst hatte, verhüllend. Und ich, Salomo, sagte zum Dämon: Wer bist du? Sie sagte: Und wer bist du, oder wozu willst du wissen, wie es um micht steht? Doch wenn du es wissen willst, dann gehe in die königlichen 182 183 184 185 186 187

B. Schmidt: 1. c. pag. 132 Die Frage der genauen Datierung ist umstritten Ch. Ch. McCown: Testamentum Salomonis. Leipzig 1922 G. Scholem: JE. Jerusalem 1972 Vol. XI s. v. Lilith J. Petro ff: JE. Jerusalem 1971 Vol. XV s. v. Test, of Solomon Ch. Ch. McCown: 1. c. pag. 43ff

Gemächer, wasche deine Hände, setze dich wieder auf deinen Thron und frage mich. Dann wirst du erfahren, oh König, wer ich bin. Nachdem ich, Salomo, dies getan hatte und mich auf meinen Thron gesetzt hatte, fragte ich sie und sprach: Wer bist du? Sie sagte: Obyzouth werde ich bei den Menschen genannt. Nachts schlafe ich nicht, sondern mache die Runde durch die ganze Welt und besuche Frauen im Kindbett. Wenn ich die Stunde ahne, nehme ich meinen Platz ein und wenn ich den geeigneten Augenblick erspähe, dann erwürge ich das Kind. Wenn nicht, dann ziehe ich mich an einen anderen Ort zurück, denn ich kann nicht auch nur eine einzige Nacht ohne Erfolg bleiben . . . Denn ich habe nichts anderes zu tun, als Kinder zu töten, ihre Ohren taub zu machen, ihren Augen Übles zuzufügen, ihren Mund festzubinden (?), ihre Sinne zu verwirren ur\d ihren Körper zu quälen. Als ich, Salomo, dies hörte, sagte ich zu ihr: Sage mir, du böser Geist, von welchem Engel wirst du unschädlich gemacht? Sie sprach zu mir: Vom Engel Apharoph. Und wenn die Frauen gebären, dann schreiben sie meinen Namen auf einen Zettel, dann werde ich von dort fliehen.»

Kommentar:

Dass es sich bei diesem Text um eine Lilith-ähnliche Gestalt handeln muss, geht aus dem ganzen Kontext eindeutig hervor. Auch der Name Obyzouth scheint in diese Richtung zu weisen. Der Name selbst ist bis jetzt noch nicht mit Sicherheit gedeutet. Aber auf späteren griechisch-byzantinischen Amuletten wird ein kinder­ raubender und -tötender weiblicher Dämon mit dem Namen Byza oder Abouzou genannt, was nach B. Schmidt188 so viel wie Blutsauge­ rin bedeuten soll. Einer der geheimen Namen dieses Dämons ist Gyllou oder hebräisch Gilu,189 der seinerseits einer der mystischen Namen der Lilith ist.190 Im kabbalistischen Schrifttum ist Obyzou191 einer der geheimen Namen der Lilith. Der Text kleidet sich in die Form einer legendären Erzählung. Dabei muss die richtige rite d’entree vollzogen werden, bis es zur Begegnung mit dem Dämon kommt. Erst dann will Obyzouth ihren Namen dem König preisgeben und damit ihr eigentliches Wesen enthüllen. Der Held dieser ganzen Schrift ist König Salomo, der sowohl in der jüdischen wie in der arabischen Literatur seit jeher als 188 B. Schmidt: 1. c. pag. 139ff 189 H. A. Winkler: Salomo und die Karina. Eine orientalische Legende von der Bezwingung einer Kindbettdämonin durch einen heiligen Helden. Stuttgart 1931 pag. 110 190 G. Scholem: Buchbesprechung von H. A. Winklers Buch i. KS. Jerusalem 1934/35 Vol. X pag. 71 191 Das griechische theta ist in den hebräischen Texten weggefallen

Herr und Meister über alle Geister und Dämonen galt. Bereits Flavius Josephus192 erwähnt, dass Salomo einen Beschwörungstext zum Schutz vor Dämonen verfasst habe. Beziehungen Liliths zu Salomo finden sich später in den aramäischen Zaubertexten sowie im kabbalistischen Schrifttum. Hier sind die beiden Dirnen, welche ihren Streit wegen des Kindes Salomo vorlegen, niemand anders als die beiden Dämonen Lilith und Na’ama, welch letztere häufig mit Lilith identifiziert wurde. Auch mit der Königin von Saba wurde Lilith identifiziert, worauf G. Scholem hingewiesen hat.193 Im Testament Salomos tritt Lilith beziehungsweise Obyzouth in ihrer Rolle als Verführerin des Mannes völlig in den Hintergrund. Sie hat hier ausschliesslich die Aufgabe, Kinder zu erwürgen. Sie tut dies aber nicht aus eigenem Antrieb, sondern weil sie eigens zu diesem Zweck erschaffen wurde. Neu in diesem Text ist ein Motiv, das in zahlreichen Mythen, Märchen und Legenden immer wieder auftritt: das Wissen und Aufschreiben des oder der geheimen Namen eines Gottes oder Dämons gewährt Schutz vor deren zerstörender Kraft. Der in unserem Text erwähnte Engel Apharoph ist niemand anders als der Erzengel Raphael, der besonders gegen krankheitsbringende Dä­ monen angerufen wurde, denn Raphael bedeutet: Gott heilt. Dies basiert auf einer archaischen, magischen Vorstellung: Denn der Name eines Gottes, eines Dämons, aber auch eines Menschen oder sein Bild ist ebenso Teil seines Wesens, wie sein Körper oder seine Seele. In Griechenland war es die Kenntnis der Logoi Hekatikoi (Namen der Hekate), die vor den gefährlichen Umtrieben der Göttin Hekate Schutz bringen sollte. In Ägypten mussten für den jüngsten Tag, den Tag des Gerichts, die Namen der Götter genau gelernt werden. Es herrschte dort der Brauch, die Götter jeweils auf Grund des Wissens ihrer Namen zu bedrohen, was vom Kirchenvater Porphyrios sehr gerügt wird. So versucht auf einem ägyptischen Amulett-Text der Betende, die Kenntnis der geheimen Gottesnamen 192 Fl. Josephus: Antiqit. VIII 11, 5 193 G. Scholem: Lilith u’malkat Schevai. Peraqimchadaschim me’injenei Aschmedai ve’Lilith. TZ. Jerusalem 1947/48 Vol. XIX pag. 165ff

dazu zu benützen, den Gott zu zwingen, ihm hilfreich beizu­ stehen:194 «Gewähre mir deine Gnade, denn ich habe deinen ’geheimen Namen’ (to krypton onoma) ausgesprochen.»

Auf einem koptischen Amulett heisst es:195 «Ich beschwöre dich bei dem grossen Cherub des Feuers, dessen Name niemand kennt, ich beschwöre dich bei dem grossen Namen Gottes, dessen Name niemand weis s.»

Indem Obyzouth ihren Namen preisgibt, unterwirft sie sich der Macht Salomos. Gleichzeitig gibt sie den Namen jenes Engels an, dem sie selbst gehorchen muss. Offenbar ist es dem König dadurch möglich, mit dem Engel in Verbindung zu treten und ihn zu veranlassen, dass er seinerseits den Dämon zwingt, vom Opfer abzulassen.

5) Die aramäischen Zaubertexte Eine der bedeutsamsten Quellen für die Kenntnis des LilithMythos sind zweifellos die aramäischen Zaubertexte. Sie spiegeln in erster Linie die Auffassungen wieder, wie sie sich im jüdischen Volksglauben in Babylonien niedergeschlagen haben. Der weitaus grösste Teil dieser Inschriften wurde anlässlich der archäologischen Untersuchungen der Universität von Pennsylvania im südlichen Babylonien aufgefunden. Seither sind aus den verschiedensten Gegenden des Mittleren Ostens solche Inschriften aufgefunden worden. Bereits früher hatte//./. Layard196 verschiedene Zaubertexte in Babylon und Ninive entdeckt und darin Beschwörungstexte gegen Lilith gefunden. 194 C. Bonner: Studies in Magical Amulets chiefly Graeco-Egyptian. Ann Arbor 1950 pag. 23 195 J. Drescher: A Coptic Amulet i. Coptic Studies in honor of W. E. Crum. Boston 1950 pag. 269 196 H. J. Layard: Discoveries in the Ruins of Niniveh and Babylon. London 1853 pag. 512f

Die v o n / A. Montgomery197 im Jahre 1913 herausgegebenen Texte stammen aus der Innenseite von Schalen, welche in den Hausruinen einer jüdischen Siedlung in Nippur lagen. Die Inschriften sind, von wenigen Ausnahmen abgesehen, auf der inneren Seite der Gefässe angebracht. Nur wenige Schalen tragen auch auf der äusseren Seite Beschriftungen. Der Zeitpunkt der Herstellung dieser Schalen sowie ihrer Inschriften ist bis jetzt noch nicht eindeutig geklärt. Nach J. A. Montgomery u. A. dürfte hierfür das 6. oder 7. nachchristliche Jahrhundert in Frage kommen. J. N. Epstein198 hat auf eine ganze Reihe von Irrtümern und Fehlinterpretationen in der Übersetzung des Herausgebers hin­ gewiesen, desgleichen auch H. Torczyner. Trotz zahlreicher Mängel der Übersetzung bilden aber diese Zaubertexte einen wesentlichen Beitrag zur Kenntnis des Lilith-Mythos. Die Tatsache, dass die meisten Inschriften auf der Innenseite der Schalen angebracht wurden, hat zu der Vermutung Anlass gegeben, dass die Schalen mit einer Flüssigkeit — vielleicht Wasser oder Wein — gefüllt wurden, welche der vom Zauber Befallene auszutrinken hatte. Dadurch sollte die Wirksamkeit der Beschwörung verstärkt und die Texte gleichsam einverleibt werden. Nach E. S. Drower199 ist es

«. . . ein alter mandäischer Brauch, in Zeiten der Pest und anderen Krankheiten neben der Türschwelle oder neben dem Grabe eines Menschen, der durch Krankheit dahingerafft wurde, zwei Schalen zu vergraben, eine umgekehrt über der anderen, welche innen Inschriften tragen mit Beschwörungen gegen Krankheits­ dämonen, Geistern der Dunkelheit, Liliths usw., Verwünschungen gegen jene, welche Krankheiten und Unglück bringen.»

E. S. Drower200 vermutet in diesem Zusammenhang, dass die Schale zum Trinken von Wasser Heilkräfte gegen die Dämonen vermittle. Von der Auffassung, dass die Schalen zum Trinken irgendwelcher Flüssigkeiten dienen, ist aber die neuere Mandäerforschung abge-

197 J. A. Montgomery: ARIT. Philadelphia 1913 pag, 13ff 198 J. N. Epstein: Glosses Babylo-Arameennes i. REJ. Paris 1921 Vol. LXXIII pag. 27f& 1922 Vol. LXXIV pag. 40ff 199 E. S. Drower: MII. London 1937 pag. 25 200 E. S. Drower: 1. c. pag. 318 Anm. 4

kommen, und man ist heute fast allgemein der Auffassung, dass diese Gefässe dazu dienten, dass man die bösen Geister in sie hinein bannen wollte.201 Bis heute ist die Frage ungeklärt geblieben: Weshalb wurden bei diesem Beschwörungszauber gerade Schalen verwendet und was für eine Bewandtnis hat es damit, dass diese Schalen jeweils in der Erde vergraben wurden? Das Motiv der Schale oder des Gefässes ist ein archaisches, allgemein verbreitetes d. h. archetypisches Symbol, das inbesondere in der mittelalterlichen Alchemie eine grosse Rolle spielte. Im alchemistischen Gefäss, welches «hermetisch» verschlossen sein musste, findet der alchemistische Wandlungsprozess statt. Zwar sind weder die aramäischen, noch die mandäischen Zauberschalen ver­ schlossen, aber häufig wurden zwei Schalen mit der offenen Seite gegeneinander vergraben. Eine einleuchtende Erklärung für die Verwendung von Schalen oder Gefässen hat C. G. Jung in seinen Tavistock Lectures gegeben. In diesen werden zwei Abbildungen von Gefässen wiedergegeben, die von einem Patienten mit unklarer Diagnose gemalt wurden. Das erste Bild zeigt ein Gefäss, das Zeichnungen von völlig unzusammen­ hängenden Gegenständen enthält. Wegen der in diesen Zeichnungen vorhandenen «Bruchlinien» hat C. G. Jung diese Bilder als Ausdruck einer Schizophrenie diagnostiziert, was sich in der Tat als richtig erwies. Nach C. G. Jung202 ist «. . . ein Gefäss ein Gerät, das etwas enthalten soll. Es enthält zum Beispiel Flüssigkeiten und verhindert sie am Verschüttetwerden. Unser deutsches Wort ’Gefäss’ ist das Hauptwort von fassen, das heisst enthalten, etwas ergreifen. Das Wort Fassung bedeutet Einpassung und im übertragenen Sinn Haltung, gesammelt bleiben. So deutet das Gefäss auf diesem Bild die Bewegung des Enthaltens an, um etwas zu sammeln und zusammenzuhalten. Man muss etwas Zusammenhalten, was sonst auseinanderfallen würde.»

So kann man sagen, dass analog auch die Zauberschalen etwas enthalten, nämlich den Beschwörungstext, der nicht nach aussen 201 J. A. Montgomery: ARIT pag. 41, ähnlich auch H. Pognon und H. V. Hilprecht R. C. Thompson: Semitic Magic. London 1908 pag. IVf 202 C. G. Jung: Über Grundlagen der Analytischen Psychologie. Olten 1975 pag. 206f

gelangen darf, da dies gewisse Gefahren mit sich bringen würde. Da überdies die Schalen fast alle kreisrund sind, kommt noch ein weiteres Motiv hinzu: es ist einerseits der schützende Kreis, andererseits das Mandala, das auf die Ganzheit hinweist. Wie beim hermetischen Gefäss, so soll auch vom Mandala nichts nach aussen gelangen. So soll auch der Beschwörungstext nicht nach aussen gelangen, da er sonst Schaden stiften könnte. Einfacher ist das Vergraben der Schalen zu verstehen. Es handelt sich um einen Ausdruck einer archaisch-magischen Geisteshaltung: das Gefährliche oder Böse wird aus dem Gesichtskreis weggeschafft, wodurch es quasi nicht-mehr-existent wird. Solche Wegschaffungszeremonien sind in der allgemeinen Religionsgeschichte bei zahl­ reichen Völkern bekannt. Bei den Juden wurde am Versöhnungstag der mit den Sünden des Volkes beladene Ziegenbock zu dem in der Wüste hausenden Azazel geschickt. Im mittelalterlichen, deutschen Volksglauben wurden jeweils auch Krankheiten vergraben. Das Wegschaffen des Bösen aus dem Gesichtsfeld bedeutet psychologisch nichts anderes als eine Verdrängung, ein Nicht-sehenwollen, was für den primitiven Menschen gleichbedeutend ist mit Nicht-existieren. Durch die Bannung der Dämonen in die Schalen durch die Kraft des gesprochenen Wortes, werden die Dämonen gezwungen, von Menschen, Vieh, Häusern und allem übrigen Besitz der Verzau­ berten abzulassen und zu verschwinden. Magische Praktiken, wie sie in Babylonien und bei den Hettitern üblich waren, fehlen entweder oder spielen nur eine untergeordnete Rolle. Ausser den magischen Anrufungen enthalten mehrere Schalen Texte aus dem Alten Testament, so aus dem Deuteronomium und den Psalmen. Vor Beginn und mehr noch bei Abschluss des Rituals heisst es jeweils, nun seien die Dämonen «gebunden und gesiegelt» oder sie seien «gesiegelt, gebunden und beschworen in den vier Ecken des Hauses». Häufig wird der Exorzismus vorgenommen «im Namen des grossen Prinzen Michael», wobei es sich um den Erzengel dieses Namens handelt. Durch ihn werden die Dämonen «gebunden mit sieben Zaubersprüchen und gesiegelt mit sieben Siegeln».204 Als weiteren 204 J. A. Montgomery: ARIT pag. 138 (Schale 5)

Beistand werden gelegentlich die Erzengel Gabriel und Raphael angerufen, oder «Hermes, der grosse Meister», ferner «Abraxas, der Hüter der guten und Vernichter der bösen Geister,205 ebenso auch Metatron, der «Fürst des Angesichts».206 Hie und da werden die Patikhras, d. h. geisterhafte Gestalten zu Hilfe gerufen. Das Wort dürfte aus dem Mittelpersischen (Pehlevi) stammen und mög­ licherweise eine Beziehung zu den Pairikas haben, d. h. schönen verführerischen, weiblichen Dämonen, welche die Männer be­ tören.207 In späteren Amulett-Texten werden gegen die Lilith Adam und Eva, die Erzväter und -mütter sowie drei besondere Engel angerufen, welche ausschliesslich im Zusammenhang mit solchen Beschwörun­ gen gegen Lilith genannt werden. Die in den aramäischen Zaubertexten erwähnten Dämonen werden im allgemeinen nicht mit Namen genannt. In den meisten Fällen werden sie einfach als «der Töter», «der Dämon», «der Satan» oder «der Räuber» bezeichnet. Nur ein einziger Dämon wird regelmässig mit seinem Namen erwähnt: Lilith, wobei sämtliche weiblichen Dämonen als Liliths (liliatha) bezeichnet werden. Je nach der jeweiligen Tätigkeit kommt zum Eigenname noch eine nähere Bezeichnung hinzu. Der für Lilith allgemein übliche Name ist «die Würgerin» (Chaniquta oder Chanuqita), genau wie in der weit älteren Inschrift von Arslan Tasch I. Die angerufenen Dämonen verursachen sowohl körperliche Krankheiten wie seelische Störungen. Es existieren aber auch Zaubersprüche, welche die Unfruchtbarkeit der Frau aufheben oder Fehlgeburten verhindern sollen.208 Einige Texte enthalten einen Liebeszauber, durch welchen die entschwindende Liebe des Ehe­ mannes zurückgewonnen werden soll.209 Die Analogie der aramäischen und mandäischen Zaubertexte zu den babylonischen Inkantationssprüchen scheint mir nicht derart 205 J. A. Montgomery: ARIT pag. 146 (Schale 7) 206 C. H. Gordon: Aramaic and Mandaic Bowls i. AO Prag 1937. Vol. IX pag. 93 (Text L) 207 A. Kohut: Über die jüdische Angelologie und Dämonologie in ihrer Abhängigkeit vom Parsismus. Leipzig 1866 pah. 86 208 J. A. Montgomery: ARIT pag. 168 (Schale 11) 209 J. A. Montgomery: ARIT pag. 178 (Schale 13) & pag. 213 (Schale 28)

gross zu sein, wie dies H. Zimmern210 annehmen möchte, der in ihnen einen Beweis für das «nachhaltige Einströmen babylonischer, dämonologischer Vorstellungen in das Judentum» sehen will. Trotz zahlreicher gemeinsamer Vorstellungen sind die Unterschiede doch sehr ausgeprägt. Die angerufenen Lilin und Liliths werden beschworen, vom Verzauberten abzulassen und sich von Haus und Hof zu entfernen. So sollen alle «Dämonen, Teufel, Satane und Liliths» gezwungen werden, sich wegzubegeben, welche unter den Bogengängen woh­ nen oder auf den Türschwellen lauern.211 Denn wo immer eine Art Übergang vorliegt, warten die Dämonen. Vor allem wird Lilith davor gewarnt, weder nachts in Träumen noch während des Schlummers am Tage zu erscheinen.212 Zwei der Nippur-Schalen enthalten einen fast gleichlautenden Text. Eine Parallele dazu wurde von C. H. Gordon213 ediert. Es heisst darin: «Diese Schale ist dafür bestimmt, das Haus des Gevanai zu siegeln, damit von ihm die böse Lilith entfliehe, im Namen ’Els, der zerstreut hat’, die Liliths, die männlichen Lilin und die weiblichen Liliths, die Schelanitha und Chatiphata, die drei, die vier und die fünf. Nackt wirst du weggeschickt, unbekleidet, mit aufgelöstem Haar, das hinter deinem Rücken flattert.»

Kommentar:

Die drei, die vier und die fünf dürften sich weniger auf Begleiter der Lilith beziehen, als vielmehr auf verschiedene Arten von Lilin und Liliths. Die beiden eigenartigen Bezeichnungen Schelanitha und Chatiphata (andere Lesart: Chataphita) sind ausgesprochene Schimpfnamen, welche nicht nur in diesen beiden Schalen, sondern auch in späteren orientalisch-jüdischen Texten Vorkommen. Ihre Übersetzung ist bis jetzt noch nicht völlig gesichert. J. A. Mont­ gomery214 übersetzt sie mit «Hag and Ghoul». Hag bedeutet ungefähr 210 E. Schräder: Die Keilinschriften und das Alte Testament ed H. Zimmern. Berlin 1902/03 pag. 463 211 J. A. Montgomery: ARIT pag. 141 (Schale 6) 212 J. A. Montgomery: ARIT pag. 154 (Schale 8) 213 C. H. Gordon: 1. c. pag. 93 (Text K). Vgl. hierzu J. A. Montgomery: ARIT pag. 154 (Schale 8) & pag. 190 (Schale 17) 214 J. A. Montgomery: ARIT pag. 155 (Schale 8) und pag. 190 (Schale 17)

so viel wie Hexe, während das Wort Ghoul die spezifische arabische Bezeichnung für einen Dämon bedeutet, ähnlich etwa dem ara­ bischen D jinn./ A. Montgomery denkt auch an einen Zusammenhang von Schelanitha mit dem arabischen Wort Schi’lat, was ebenfalls Hexe bedeuten soll. Ausserdem sei eine Ableitung vom assyrischen Schulü, d. h. Gespenst in Erwägung zu ziehen.215 Aber alle diese etymologischen Ableitungen sind fragwürdig. Wahrscheinlich han­ delt es sich beim Namen Schelanitha um eine korrupte Schreibweise. G. Scholem216 hat die Vermutung geäussert, dass die ursprüngliche Schreibweise Talanitha war, was vom Standpunkte der Epigraphik her gesehen, durchaus möglich wäre, da die Buchstaben SCH und T eine gewisse Ähnlichkeit besitzen. Zur Stützung seiner Auffassung zieht G. Scholem einen von A. Dupont-Sommer211 edierten aramäischen Text heran, in welchem neben anderen Dämonen tatsächlich eine Talanitha erwähnt wird. Diesen Ausdruck übersetzen A. DupontSommer mit «La Tenebreuse» und G. Scholem mit «The Shade». Auf der anderen Seite aber hatte C. H. Gordon218 bereits früher einen Text aus einer aramäischen Zauberschale veröffentlicht, in welchem ebenfalls eine Talanitha erwähnt wird. Auch C. H . Gordon nimmt eine korrupte Schreibweise an, vermutet aber, dass gerade umgekehrt die richtige Übersetzung Schelanitha sei, ohne dass er allerdings in der Lage ist, diesen Ausdruck näher zu erklären. Weniger Schwierigkeiten ergeben sich aus der Übersetzung von Chatiphata. Das Wort bedeutet nichts anderes als Räuber, Packer, Ergreifer, analog dem babylonischen Ahhazü. Es handelt sich um Bezeichnungen, welche im Zusammenhang mit Lilith immer wieder auftreten. J. A. Montgomery und nach ihm Th. H. Gaster haben in diesem Zusammenhang daraufhingewiesen, dass der im Alten Testament an zwei Stellen erwähnte, rituell unreine Vogel Tachmas219 in einer der 215 J. A. Montgomery: ARIT pag. 157 (Schale 8) 216 G. Scholem: A New Interpretation of an Aramaic Inscription i. J G. Philadelphia 1965 pag. 88 217 A. Dupont-Sommer: Deux Lamelles d’Argent ä lTnscription Hebreo-Arameenne trouvees ä Agabeyli i. JKF. Heidelberg 1950/51 Vol. I pag. 201f 218 C. H. Gordon: 1. c. pag. 93 (Text K) 219 Levit.: 11, 16 Deut.: 14, 15

aramäischen Bibelübersetzungen, nämlich im Targum Onkelos, ebenfalls mit Chatiphata übersetzt wird. Das Wort Tachmas geht auf die Wurzel Ch-m-s zurück, was so viel wie Gewalt üben oder antun bedeutet.220 Möglicherweise sind also Querverbindungen zwischen Lilith und Chatiphata einerseits und Tachmas andererseits vor­ handen, doch ist dies nicht eindeutig gesichert. Seit den Ausgrabungen in Nippur sind aus den verschiedensten Gegenden des Nahen und Mittleren Ostens solche Zauberschalen aufgefunden worden, so dass sich die Wissenschaft von den Schalen zu einem Spezialgebiet der Epigraphik entwickelt hat. Eine grössere Anzahl von Schalen-Texten wurden von C. H. Gordon, J. Oberman und J. Teixidor veröffentlicht und kommentiert. In einer, von C. H. Gordon herausgegebenen Textstelle aus einer aramäischen Schale heisst es:221 «Gesiegelt und nochmals gesiegelt (sind) Haus und Schwelle des Adaq, des Sohnes der Mahlapta, für sein Weib Mamai, vor allen bösen Poltergeistern, Dämonen, Ungeheuern und Liliths, vor allen Winddämonen und Schädlingen, so dass sie nicht dem Haus und der Schwelle des Adaq, des Sohnes der Mahlapta näher kommen . . . Sie sind mit drei Ringen gesiegelt und mit sieben Siegeln nochmals gesiegelt.»

Ring und Siegel sind es, welche den Beschwörungen besonderen Nachdruck verleihen und auf die Dämonen eine abschreckende Wirkung ausüben sollen. Einen besonders eindrücklichen und feierlichen Beschwörungs­ text enthält die Nippur-Schale Nr. 8:222 «Du sollst nicht wieder erscheinen in seinem Hause, noch in ihrer Wohnung, noch in ihrem Schlafgemach. Denn es wird dir bekannt gemacht, dir (Lilith), deren Vater Palhas und deren Mutter Pelahdad ist, dass gegen dich R.Josua ben Perachja einen Bann geschickt hat. Ich beschwöre dich beim (Namen des) Palhas, deinem Vater und der Pelahdad, deiner Mutter: Vom Himmel her kam zu uns eine Scheidungs­ urkunde. In ihr ist eine Nachricht und eine Einschüchterung für dich geschrieben, für dich, im Namen von Palsa-Pelischa. Du Lilith, männlicher Lili und weibliche Lilith, Schelanitha und Chatiphata, ihr seid mit dem Banne belegt. . . Ihr 220 LVTL s. v. ch-m-s 221 C. H. Gordon: AramaicIncantationBowlsi. OR. Rom 1941 Vol.Xpag. 120ff(Text3). Vgl. hierzu auch E. M. Yamauchi: Aramaic Magic Bowls i. JAOS. New Haven 1965 Vol. LXXXV pag. 512 222 J. A. Montgomery: ARIT pag. 154 (Schale 8)

sollt nicht wieder erscheinen, weder im Traum in der Nacht noch während des Schlummers am Tage. Denn gesiegelt seid ihr mit dem Siegel von El Schaddai, dem Siegel des Hauses des Josua ben Perachja und durch die sieben, die vor ihm sind. Du, Lilith, männlicher Lili und weibliche Lilith: Ich beschwöre euch bei der Strenge Abrahams, dem Felsen Isaaks, bei Schaddai Jakobs. YH ist sein Name, YH sein Andenken . . . Eure Scheidungsurkunde, durch die heiligen Engel geschickt. . . Ich reisse aus die bösen Würgerinnen und ihre bösen Liliths. Kehrt nicht zu ihnen zurück von heute an für immer. Amen.»

Kommentar:

Der vorliegende Text enthält einige Lücken, die aber für das Verständnis nicht von Bedeutung sind. Es lässt sich nicht mit Sicherheit feststellen, ob sich der Zauberbann auf den Ehemann, seine Frau oder auf beide bezieht. Die Dämonen und Liliths werden beschworen, weder in der Nacht noch am Tage zu erscheinen. Es heisst von ihnen, dass sie nicht nur in Träumen und in Visionen erscheinen, sondern auch diese selbst verursachen. Daher erscheinen sie nachts und im Schlaf am Mittag. Diese Zeit galt bei vielen Völkern als eine besonders gefährliche, ja nefaste Zeit. Schädliche Mittagsdämonen (Taharirin) sind auch dem jüdischen Schrifttum bekannt. In der griechischen Mythologie ist der Mittag die Zeit, in der Faune und Satyrn die Menschen angreifen, wenn sie sich auf offenem Felde befinden. Was diesen Text besonders interessant macht, ist das in ihm ent­ haltene Scheidungsritual. Der von der Lilith Verzauberte verhält sich so, als ob er gleichsam mit ihr verheiratet wäre. Dadurch aber erhält Lilith gewisse legitime, eheliche Rechte. Durch die Scheidung wird bezweckt, ihr diese Rechte abzuerkennen. Die Scheidungszeremonie wird dabei genau nach dem Vorbild einer äusseren, gerichtlichen Scheidung einer Ehe vollzogen. In Scheidungsurkunden wird jeweils der Name des Vaters der Gattin angegeben.223 In unserem Falle werden sogar die Namen beider Eltern der Lilith genannt. Die Bedeutung ihrer Namen ist nicht bekannt. Als die grosse Autorität in der Dämonenbeschwörung und -Austreibung wird regelmässig R. Josua ben Perachja genannt, ein Talmudlehrer, der im ersten vorchristlichen Jahrhundert lebte und der im Talmud wiederholt erwähnt wird. 223 M. Cohn: Jüd. Lexikon. Berlin 1928 Vol. II s. v. Get (= Scheidebrief)

Die Möglichkeit einer Scheidung stand ursprünglich nach geltendem, jüdischem Recht ausschliesslich dem Manne zu. Denn nach diesem ist die Frau Eigentum des Mannes. Eine richterliche Behörde kann kein Scheidungsurteil fällen. Eine Zustimmung der Ehefrau zur Scheidung steht ihr nur in wenigen, genau festgelegten Fällen zu, z. B. bei Misshandlung, bei Verweigerung der Unter­ haltskosten und bei Ergreifung eines entehrenden Berufes durch den Mann. Seit der Rabbinerkonferenz von Worms im Jahre 1040 wurde aber die Zustimmung der Ehefrau vorgeschrieben.224 Vollzogen wird die Scheidung durch Übergabe einer Urkunde, welche nach ganz bestimmten Vorschriften geschrieben sein muss. Der Mann übergibt der Frau den Scheidebrief mit den Worten: Hier ist dein Scheidebrief, nimm ihn in Empfang und sei von nun an geschieden von mir und für jeden anderen frei.» Die Scheidungsurkunde stellt erst eigentlich die endgültige Trennung der beiden Ehegatten fest. Sie wird in unserem Falle geschickt im Namen von Palsa-Pelischa, d. h. von demjenigen, «der scheidet und der geschieden hat». Die Rabbinen hatten lediglich die Befugnis, Dämonen «zu binden und zu lösen». Aber für eine rechtsgültige Scheidung von einem Dämon war eine zusätzliche, götdiche Autorität nötig. Daher heisst es in unserem Text, die Scheidungsurkunde sei «vom Himmel» geschickt worden. Ein weiterer Zaubertext aus einer im Iran aufgefundenen Schale wurde von C. H. Gordon225 veröffentlicht: «Gebunden und gesiegelt seid ihr alle, Schedim und Daevin und Liliths, mit den schweren, strengen und mächtigen Fesseln, mit denen Sison und Sisin gebunden sind. Die böse Lilith, welche die Herzen der Männer irre gehen lässt, die in Träumen während der Nacht und in Visionen am Tage erscheint, die brennt und niederwirft226 als ein Nachtmar, die Knaben und Mädchen,Jünglinge undjungfrauen angreift und tötet: Besiegt ist sie und weggesiegelt vom Hause und der Schwelle des BahramGusnasp, des Sohnes der Ischtara-Nahid, durch den Talisman des Metatron, des grossen Prinzen, der genannt wird ’Der grosse Heiler’ . . . Er besiegt Schedim und 224 M. Cohn: Jüd. Lexikon. Berlin 1928 Vol. II s. v. Eherecht 225 C. H. Gordon: Two Magical Bowls in Teheran i. OR. Rom 1951 Vol. XX pag. 306ff 226 Nach G. Scholem ist hier nicht von einem «brennen und niederwerfen» die Rede, vielmehr von einem «Steigen und Fallen» der Lilith. (Schrifd. Mitteilung von Prof. G. Scholem)

Daevin, schwarze Künste und mächtige Zaubersprüche. . . Besiegt sind die schwarzen Künste, die mächtigen Zaubersprüche, besiegt sind die verhexenden Frauen, sie, ihre Hexerei, ihre Zaubereien, ihre Verwünschungen und Beschwö­ rungen. Weggehalten sind sie von den vier Wanden des Hauses des BahramGusnasp, des Sohnes der Ischtara-Nahid. Besiegt und niedergetreten sind die verhexenden Frauen, besiegt auf Erden und im Himmel. Gebunden sind die Werke ihrer Hände. Amen.»

Kommentar:

Es handelt sich um einen zwar jüdischen, aber für nichtjüdische Anhänger Zoroasters bestimmten Text. Hierfür sprechen schon die Namen Gusnasp und Nahid. Gusnasp bedeutet nach C. H. Gordon so viel wie ein junges Pferd, während Nahid, die iranische Bezeichnung für Ischtar, ein üblicher Name für Frauen war. Die im Text erwähnten Daevin entsprechen den Daevas in der Religion Zoroasters und den Dews der Mandäer. Es sind dämonische Wesen, die im Dienste des Angramainyu stehen. Der im Text erwähnte Metatron ist der «Fürst des Angesichts», der oberste Herr über die Engelscharen, der besonders in der frühen jüdischen Mystik — der sogenannte Merkaba-Mystik — eine grosse Rolle spielt. Da es sich bei allen diesen Beschwörungstexten um ausge­ sprochene Wortmagie handelt, ist es nicht verwunderlich, wenn sich dieselben Worte und Redewendungen im gleichen Text formelhaft immer wiederholen. Dadurch soll bezweckt werden, ihre magische oder apotropäische Wirkung zu verstärken. Die aramäischen Zaubertexte zeigen einerseits, wie ungemein lebendig der Dämonenglaube, im besonderen der Glaube an Lilith war. Sie zeigen aber auch die Ängste, welche die Menschen vor dieser dämonischen Gestalt empfanden, die sie ja als ein durchaus reales Wesen hielten. Den Männern gegenüber ist Lilith die grosse Verführerin, welche ihre «Herzen irre gehen lässt». Sie macht sie ihren Ehefrauen abspenstig, ähnlich wie in der arabischen Literatur die Karina. Der Auffassung von J. A. Montgomery 221 welcher die Ängste der Frau vor Lilith als «most developed products of the morbid imagination of the barren or neurotic woman, the mother in the time of maternity, of the sleepless child» abtut, vermag ich nicht zu folgen, 227 J. A. Montgomery: ARIT pag. 77

da sie eine allzu rationale und simplifizierende Erklärung ist. Hier geht es nicht um «Einbildungen» von neurotischen Frauen, sondern um Ängste, die alle Frauen vor Lilith empfanden. Im übrigen wurden ja auch gleicherweise die Männer betroffen. Dass im übrigen Dämonen als Bringer jeden Unheils und vor allem aller körperlichen und seelischen Störungen betrachtet wurden, hängt mit dem archaischen und magischen Weltbild zusammen, das die Menschen jener Zeit entscheidend prägte. In den babylonischen Zaubertexten werden die von Dämonen verursachten Krankheiten aufgezählt. Dazu gehören Zerrungen der Glieder, Knochenbrüche, Erkrankungen der Galle, der Leber und des Herzens.228 Ebenso schreibt die ägyptische Magie die Krankheiten der Wirkung dämonischer Wesen zu und die griechischen Zauberpapyri sind voll von solchen Ideen. Aber auch im Neuen Testament lassen sich ähn­ liche Vorstellungen unschwer nachweisen. Bei Matthäus229 werden Teufel erwähnt, welche «Blindheit und Taubstummheit» verursachen. Jesus gab seinen Schülern Macht, «unreine Geister auszutreiben und jedes Gebrechen und jede Krankheit zu heilen». In den Nippur-Texten werden ausserdem genannt: Pest, Aussatz, Schlaganfälle, aber auch Unfruchtbarkeit und Fehlgeburten bei der Frau. All dies ist ausschliesslich auf äussere Ursachen zurückzuführen, die sich in Geistern und Dämonen personifizieren. Einige der aramäischen Zauberschalen enthalten auch bildliche Darstellungen der Lilith. Sie wird meistens nackt, mit betonten Brüsten und aufgelöstem Haar, das wild hinter ihrem Rücken flattert, abgebildet.

6) Lilith in der Gnosis Auch in der gnostischen Literatur wird Lilith an einer Stelle — wenn auch nur indirekt — erwähnt. Hier ist vor allem ein schwer datierbarer, aber höchstwahr­ scheinlich aus dem 17. Jahrhundert stammender Amulett-Text zu erwähnen, der in Form einer Volkslegende die Begegnung Liliths mit 228 M. Jastrow jun.: 1. c. pag. 367 229 Matth.: 10, 1

dem Propheten Elia s c h ild e rt. A. Montgomery230 hatte seinerzeit in Übereinstimmung mit R. Gottheil — welcher diesen Text erstmals kopierte — angenommen, dass es sich wahrscheinlich um eine Inschrift aus einer Nippur-Schale handle, denn «. . . a bowl would have been a perfectly place for a text of this prophylactic character.»

Diese Annahme hat sich indessen als irrig erwiesen. Denn G. Scholem231 hat darauf hingewiesen, dass diese Lilith-Legende dem älteren, jüdischen Schrifttum unbekannt war. Da sie aber von gewissen heterodoxen, nichtjüdischen Gnostikern zitiert wird, muss angenommen werden, dass diese Legende älteren, zunächst m ünd­ lich tradierten, jüdischen Quellen entstammt, da eine nichtjüdische Herkunft ausgeschlossen werden kann. Gleichzeitig haben aber diese Gnostiker den Inhalt der Legende in ihrem Sinne verändert. G. Scholem zitiert in diesem Zusammenhang das Panarion des Kirchen­ vaters Epiphanias, ein ausgesprochen antignostisches Werk, das zwischen 375 und 377 nach Chr. entstanden ist232 und das zur Hauptsache die Auffassung der sog. Barbelo-Gnosis wiederspiegelt. In diesem Werke wird nun die Begegnung Liliths mit Elija folgendermassen geschildert: «Da kam, sagt man, ein weiblicher Dämon, hielt ihn an und sagte zu ihm : Wohin gehst du? Denn ich habe Kinder von dir und du kannst nicht (zum Himmel) aufsteigen und deine Kinder zurücklassen. Und er antwortete:Wie kannst du Kinder von mir haben, habe ich doch in Heiligkeit gelebt? Sie sagte: Ja, im Schlaf, in deinen Träumen, wurdest du oft endeert durch den Ausfluss deines Körpers. Da habe ich deinen Samen empfangen und habe dir Kinder geboren.»

Die Begegnung Elijas mit dem Dämon erfolgt nach seiner Himmelsfahrt, als der Prophet bereits wieder auf die Erde zurück­ gekehrt war. Obwohl in dieser Version der Legende Lilith nicht namentlich erwähnt wird, kann kein Zweifel darüber bestehen, dass sich die Legende nur auf sie beziehen kann. Denn parallele jüdische 230 J. A. Montgomery: ARIT pag. 258 (Schale 42) 231 G. Scholem: Relationship between Gnostic and Jewish Sources i. JG. Philadelphia 1965 pag. 72f 232 K. Rudolph: Gnosis und Gnostizismus. Darmstadt 1975 pag. 309

Texte nennen Lilith ausdrücklich mit Namen. In den jüdischen Versionen wird Lilith von Elija besiegt. Die Gnostiker haben hingegen den Sinn der Legende ins Gegenteil verkehrt, indem bei ihnen Elija von Lilith überwunden wird, so dass er nicht mehr in den Himmel aufsteigen kann. Die polemische, antijüdische Spitze, welche der gnostischen Version zu Grunde liegt, ist nicht zu übersehen. Vor allem aber wird Lilith in zahlreichen Textstellen des mandäischen Schrifttums erwähnt. Die mandäische Religion ist eine spezifische Form einer gnostischen Erlösungslehre, in deren Mittelpunkt — wie in den meisten gnostischen Richtungen — die wahre «Erkenntnis» (Gnosis), im Mandäismus «Erkenntnis des Lebens» (Manda de Haije) genannt, die man sich als eine Art Erlösergestalt auch personifiziert vorstellte. Charakteristisch für die mandäische Gnosis ist ihr synkretistischer Zug, denn sie enthält neben Elementen aus dem Zoroastrismus und Mithraismus auch christliche und vor allem jüdische Züge. Die Beeinflussung erfolgte vermutlich weniger durch das offizielle Judentum, als vielmehr durch heterodoxe Sekten, so namentlich durch die Täufersekte der Elkasaiten und die Qumran-Gemeinde. Trotzdem ist der Man­ däismus, analog dem von Markion beeinflussten Manichäismus, ausgesprochen judenfeindlich eingestellt, nimmt aber gleichzeitig auch Stellung gegen die «falschen Religionen» des Christentums und des Islams. Über den vorchristlichen Ursprung dieser gnostischen Religion existiert in der modernen Mandäerforschung eine aus­ gedehnte Kontroverse: G. Widengren233 und ähnlich//. Ch. Puech und K. Rudolph sind vom vorchristlichen Ursprung überzeugt, während G. Quispel234 dies in Frage stellt. Das Mandäische ist ein ostaramäischer Dialekt, der dem Aramäischen des babylonischen Talmuds nahe verwandt ist. Die Sprache wird von den heute im Irak und in Iran lebenden Überresten der Mandäer nur noch als Kultsprache verwendet. 233 G. Widengren: Die Ursprünge des Gnostizismus und die Religionsgeschichte, i. K. Rudolph: 1. c. pag. 698ff 234 G. Quispel: Buchbesprechung von W. Foerster: Gnosis. A Selection of GnosticTexts. Vol. II i. Bibliotheca Orientalis. Leiden 1975 Vol. XXXII Nr. 5/6 pag. 372

Auch in den mandäischen Schriften wird der Name Lilith entweder als Bezeichnung für einen bestimmten, weiblichen Dämon, oder — noch häufiger — als Sammelname für eine Gruppe weiblicher Dämonen verwendet, die aus dem Reiche der Finsternis stammen. Dämonen spielen in der mandäischen Gnosis eine wesentliche Rolle und werden in sämtlichen kanonischen Schriften der Mandäer erwähnt, nämlich in den beiden Teilen des Ginza (Sidra rabba), im Qolasta sowie im Johannesbuch der Mandäer (Dräsche de malke). Hier wird entweder eine einzige Lilith oder die Liliths, als Inbegriff für sämdiche weiblichen Dämonen genannt. Zusammen mit zahl­ reichen, anderen Geistern (Saharias), Dämonen (Dews und Schidias), Unholden (Hmurtas), Amulett-Tempel- und Kapellengeistern235 sowie in Gesellschaft von Götzen, Archonten, Vampiren, Schraten und anderen, schädlichen Geistern bevölkern sie das Reich der Finsternis.236 Sie alle stehen unter der Herrschaft einer furchtbaren Mutter-Göttin, der Qin, der «Mutter der Finsternis» und ihrem Gatten Anatan, sowie ihren Kindern. Zu diesen gehören ihre Tochter Ruha, die neben oder anstelle ihrer Mutter herrscht, ihr Sohn Gaf, dem Bruder und Gemahl der Ruha, sowie ihre Tochter Lilith-Zahriel, meistens nur Zahrel oder Zahril genannt. Mit ihrem Sohn-Geliebten Ur beherrscht Ruha, die «Mutter der Sieben» (Planetengeistern) und der «Zwölf» (Tierkreiszeichen) das Reich der Finsternis. Die verschiedenen Wesensseiten der Lilith werden — analog zu den aramäischen Zaubertexten — durch spezielle Namen zum Ausdruck gebracht. Letztere sprechen von einer Lilith-Taklath,237 welche «Knaben und Mädchen tötet» und als Enkelin einer LilithZarnai238 bezeichnet wird. Eine Lilith-Hablas, 239 die «Fresserin», welche Kinder erwürgt, wird ebenfalls als Enkelin der Lilith-Zarnai bezeichnet. Als solche erscheint sie in einem aramäischen Exorzis235 236 237 238

M. Lidzbarski: GR. Göttingen & Leipzig 1925 pag. 277f M. Lidzbarski: GL pag. 540 J. A. Montgomery: ARIT pag. 168 (Schale 11) & pag. 193 (Schale 18) A. Marmorstein veröffentlichte i. Debir, Jerusalem 1923 und L. Ginzberg i. Ha’goren, Berlin 1923 den gleichen Midrasch, in welchem eine Lilith-Zarnai erwähnt wird 239 C. H. Gordon: An Aramaic Exorcism i. AO Prag. 1934 Vol. VI pag. 467

mus-Text. Auf weitere Namen der Lilith hat G. Furlani240 hinge­ wiesen. Im Johannesbuch der Mandäer wird ei ne Lilith-Azath241 erwähnt, die mit ihren Scharen im «Sinios» d. h. dem Königspalast in Rom haust. Von einer Lilith-Jilath242 wird gesagt, sie wohne an den Ufern des Flusses Ula. Vor allem ist hier Lilith-Zahriel243 zu erwähnen, die Tochter der Qin und Schwester des Gaf und der Ruha. Ihre Bedeutung geht schon daraus hervor, dass sie häufig als die «Grosse Zahriel» (Zahril rabbatia) bezeichnet wird. Mit dem, aus der jüdischen Engellehre her bekannten Engel Zahriel scheinen indessen keinerlei Beziehungen zu bestehen.244 Um den eigenartigen Charakter dieser Lilith-Gestalt zu ver­ stehen, erweist es sich als notwendig, auf einige zentrale Vorstellungen der mandäischen Gnosis einzugehen. Das religiöse Idealbild des Mandäers ist geprägt durch Kuschta, eine Vorstellung, welche — je nach dem Zusammenhang, in den sie gestellt ist, ganz verschiedene Bedeutungen haben kann. Das Wort Kuschta bedeutet zunächst Wahrheit, Ehrlichkeit, Gradheit, Recht­ schaffenheit und Treue in seinen Beziehungen.245 Höchstes Anliegen der Mandäer ist es, die «Pfade der Kuschta» zu wandeln. Denn Kuschta ist246 «für die Mandäer der Inbegriff ihrer Religion, das Rechte und Wahre im Verhalten der Gläubigen den höchsten Wesen gegenüber wie untereinander.»

Daneben spielt Kuschta in Kultus und Ritus der Mandäer eine wesentliche Rolle. «Kuschta geben» bedeutet den rituellen Hand­ schlag, der mit dem Bruderkuss verbunden ist,247 der bei den 240 G. Furlani: 11 Nomine dei Classi dei Demoni presso i Mandei i. RANL. Rom 1954 Vol. IX pag. 40 7f 241 M. Lidzbarski: Jb pag. 13 Anm. 3 242 M. Lidzbarski: Jb pag. 152 243 M. Lidzbarski: GR pag. 160 244 M. Lidzbarski: Jb pag. 11 245 W. Brandt: Die mandäische Religion, ihre Entwicklung und geschichtliche Bedeutung. Utrecht 1899 pag. 111 246 M. Lidzbarski: Jb pag. XVII 247 E. S. Drower: The Canonical Prayerbook of the Mandaeans. Leiden 1959 pag. 2 Anm. 1

verschiedensten Gelegenheiten von den «Brüdern und Schwestern in Kuschta» gegeben wird. Daneben erscheint aber Kuschta auch personifiziert,248 als eine Heilsbringer- oder Erlösergestalt, ähnlich wie andere Lichtwesen oder Uthras. Kuschta dürfte daher der Ascha in den Yasnas des Avesta entsprechen. Auch Ascha bedeutet Wahrheit und erscheint gleichzeitig als personifizierte Gestalt. Wie in den Yasnas Fragen an den höchsten Schöpfergott Ahura-Mazda gerichtet werden, so werden auch Fragen an Ascha und, im Mandäismus, an die «liebliche Kuschta» gerichtet.249 Andererseits aber richtet auch Kuschta Fragen an die höheren Wesen der Lichtwelt, so an den Demiurgen Ptahil und seinen Sohn Jokaschar und erwartet von ihnen Antwort und Belehrung über den Heilsweg der mandäischen Erlösungslehre. Die erhaltenen Antworten werden an die Gläubigen weiter vermittelt. Zu dieser Mittlerrolle ist Kuschta besonders geeignet, denn sie steht «am Tore der Welten», d. h. an der Schwelle zwischen den beiden Reichen. Sie ist daher eine Art göttlicher Weisheit und — psychologisch gesprochen — eine Anima vom Typus der Sophia. Eine der Fragen der Kuschta lautet:250 «Saget mir, in wessen Schoss das Kind bei der Bildung gebildet wird. Wenn es dann in der Mutter ist, wessen Geruch riecht es? Welche Lilith hockt auf dem Bett der Schwangeren?»251

Die Antwort auf diese Fragen erteilt ihr der Demiurg Ptahil:252 «Wenn das Kind gebildet ist, wird es aus der Hüfte des Vaters genommen und in den Uterus der Mutter geworfen. Wenn das Kind im Uterus der Mutter entsteht, riecht es den Geruch des Lebens. Auf dem Bette der Schwangeren hockt die LilithZahriel.»

Der Text macht einen Unterschied zwischen «Bilden» und «Entstehen». Die Bildung, d. h. Prägung, des Individuums erfolgt 248 249 250 251

K. Rudolph: Die Mandäer. Göttingen 1961 Vol. II pag. 140 K. Rudolph: 1. c. pag. 143 M. Lidzbarski: Jb pag. 8 & 10 E. S. Drower: MII. Oxford 1937 pag. 57 Anm. 7 übersetzt: «neben dem Bett der Schwangeren». 252 M. Lidzbarski: Jb pag. 10

durch den Vater, die weitere Ausgestaltung dagegen durch die Mutter. Es wäre nun naheliegend, anzunehmen, dass diese Lilith-Zahriel die Geburt des Kindes abwartet, um es zu rauben und zu töten. Dies ist aber in diesem Text keineswegs der Fall. Zum Verständnis des Charakters dieser Lilith muss kurz auf den mandäischen Mythos von der «Höllenfahrt des Hibil-Ziva» eingegangen werden. Wie in beinahe allen gnostisch-dualistischen Erlösungslehren, so steht auch in der mandäischen Gnosis einer oberen, hellen Welt, der Welt des Geistes, Pleroma genannt, ein unteres, finsteres Reich, das Reich der Materie entgegen. Da die himmlischen Wesen in Erfah­ rung brachten, dass im Reiche der Finsternis ein Führer geboren werden soll, der den Kampf gegen das Lichtreich aufnehmen will, wollen die himmlischen Wesen dem zuvorkommen. Es wird daher ein Abgesandter aus der Lichtwelt in die Dunkelwelt geschickt, um den Kampf gegen den Anführer dieses Reiches aufzunehmen. Der oberste Vertreter des Lichtreiches tritt unter verschiedenen Aspekten auf, denen auch verschiedene Bezeichnungen entspre­ chen. Bald wird er als mara de rabbuta, d. h. «Herr der Grösse», bald als malka roma de nehora, d. h. «Der erhabene König des Lichtes», bezeichnet. Der Abgesandte des Lichtreiches ist entweder Manda de Haije selbst, meistens aber sein Sohn Hibil-Ziva, d. h. «der strahlende Abel». Hibil-Ziva dringt in das Reich der Finsternis ein. Er wünscht von Anatan und Qin eine Tochter zur Frau. Diese sind einverstanden. Sie geben ihm ihre jüngere Tochter, Lilith-Zahriel. Hibil-Ziva hofft, durch diese Verbindung die Geheimnisse des Reiches der Finsternis zu erfahren. Dies gelingt ihm auch, indem er die drei Dinge raubt, an welche die Kräfte der Mächte des Reiches der Finsternis geknüpft sind, nämlich einen Zauberspiegel, eine Krone und eine Zauber­ perle. Nach der Heirat mit Lilith-Zahriel und dem Raub der Zauber­ dinge führt Hibil-Ziva seine Frau aus der Unterwelt herauf in das Lichtreich. Ihr Sohn ist der Demiurg Ptahil, der — entsprechend seiner Herkunft — Elemente des Lichtreiches und des Reiches der Finsternis in sich enthält.253 253 E. S. Drower: MII pag. 271

Mit dem Aufstieg der Lilith-Zahlriel ins helle Pleroma ist aber eine Wandlung eingetreten. In ihrem Werk über die Mandäer im Irak und in Iran führt E. S. Drower aus, dass in diesem Mythos Lilith kein kinderraubender Dämon ist. Sie ist, im Gegenteil, der schwangeren Frau gegenüber ein freundlicher und hilfreicher Geist, der «für das Wohlergehen des Kindes vor und nach seiner Geburt verantwortlich» ist.254 Diese Wandlung einer Lilith-Gestalt in einen Schutzengel für Mutter und Kind steht vermutlich mit ihrem Aufstieg ins Lichtreich in Zusammenhang. Die psychologischen Aspekte dieses Motivs sind nicht zu übersehen und werden später behandelt. Abgesehen von der Lilith-Zahriel werden aber im Mandäismus alle übrigen Liliths als schädliche Dämonen betrachtet. Gegen sie richtet sich der Zauber, mit dem sie von Hibil-Ziva gebannt werden sollen:255 «Gefesselt und gebunden seid ihr, Riesen der Finsternis und gefesselt sei euer Körper mit der grossen Fesselung, mit der die Schmiede die Unholde fesseln. Gefesselt sei eure Zauberei und euer Trug, den ihr treibt. Gefesselt seien eure Weiber, die Liliths, die Salamander, die verkehrten Gestalten, die hässlich, verdreht und verschnürt sind, deren Aussehen und deren Geschwätz niemand ertragen kann.»

In einer anderen Stelle des Ginza, welche eine polemische Spitze gegen das asketische Christentum enthält, heisst es:256 «Sie (die Christen) verlassen ihre Häuser und werden Mönche und Nonnen. Sie hemmen ihren Samen voneinander, die Frauen vor den Männern und die Männer or den Frauen. Sie hemmen ihren Samen und ihre Nachkommenschaft von der Welt. Sie legen ihrem Munde Fasten auf und man legt sie in Fesseln (?). Sie halten Speise und Trank von ihrem Munde fern, halten fern weisse (Fest) Gewänder von ihrem Leibe. Dann gehen Liliths zu ihnen, empfangen Samen von ihnen und werden schwanger. Davon entstehen Geister und Schrate, die über die Menschen­ kinder herfallen.»

Lilith ist in der mandäischen Gnosis vor allem durch zahlreiche Beschwörungstexte bekannt. In einem Gebet heisst es im Qolasta:257 254 255 256 257

E. S. Drower: MII pag. 46f M. Lidzbarski: GR pag. 154 M. Lidzbarski: GR pag. 50 M. Lidzbarski: Das Qolasta i. ML. Berlin 1920 pag. 42

«Bannet und entfernt von mir, N. N. und von diesen Seelen, die zum Jordan hinabgestiegen sind und getauft wurden, die Angst, die Furcht und den Schrecken vor den Geistern, Dämonen und den Liliths.»

Die meisten der Zaubertexte wurden teils in Kisch und im Euphratgebiet aufgefunden. Andere wurden in Nippur entdeckt. Wie die aramäischen Zauberschalen dürften auch diese Texte aus dem 6. bis 7. Jahrhundert stammen. Sie wurden von G. Driver, E. S. Drower, C. H. Gordon, M. Lidzbarski, J. A. Montgomery und H. Pognon veröffendicht. Später hat E. M. Yamauchi die Texte gesammelt, kommentiert und neu ediert.258 In einem Zaubertext aus dem Iran heisst es:259 «Gebunden ist die verzaubernde Lilith, die das Haus des Zako verzaubert. Gebunden ist die verzaubernde Lilith mit einem Gürtel aus Eisen auf ihrem Schädel, gebunden ist die verzaubernde Lilith mit Klammern aus Eisen in ihrem Munde. Gebunden ist die verzaubernde Lilith, die das Haus des Zako heimsucht mit einer ehernen Kette in ihrem Nacken, mit Fesseln aus Eisen an ihren Händen und Stücken aus Stein an ihren Füssen.»

Auch die mandäischen Schalen enthalten gelegendich bildliche Darstellungen der Lilith mit ausgestreckten Armen und gefesselten Händen. In einem anderen Text heisst es:260 «Gebunden sind die Liliths mit Ketten aus Blei. Gebunden sind die männlichen, verzaubernden Dämonen, gebunden sind die weiblichen, verzaubernden Liliths, welche verhasste Träume, Halluzinationen, Erscheinungen, verhasste Visionen und verhasste Trugbilder verursachen.»

In einem ähnlichen Text wird Lilith aufgefordert, zusammen mit anderen Dämonen wegzugehen:261 «Ich beschwöre dich, Lilith Haidas und dich Lilith-Taklath, Enkelin der LilithZarnai, die im Hause und auf der Schwelle des Hormiz, des Sohnes der Mahlapta wohnt und der Ahata, der Tochter der Dade, welche schlägt und tötet und verzaubert und welche Knaben und Mädchen erwürgt. . . Oh Lilith-Haldas, entfliehe, gehe weg, weiche vom Hause, der Schwelle, dem Palast und dem Gebäude, von Bett und Kissen des Hormiz . . . Und zeige dich ihnen nicht, weder in ihren Träumen noch in ihren Visionen am Tage.» 258 259 260 261

E. M. Yamauchi: MAIT i. American Oriental Series. New Haven 1967 Vol. IL C. H. Gordon: Two Magical Bowls in Teheran i. OR. New Haven 1967 Vol. XX pag. 309ff E. M. Yamauchi: MAIT pag. 213 (Text 17) E. M. Yamauchi: MAIT pag. 231 (Text 21)

Es gibt Zaubersprüche von Frauen, welche um Schutz für sich selbst und die Kinder bitten, sowohl für die geborenen wie für die noch ungeborenen:262 «Gesundheit, Schutz und Abwehr für P . . ., seine Körper und seine Seele und für das ungeborene Kind und den Mutterschoss der Bardesa, deren Mutter die Tochter der Dade ist. Gebunden sind die Hexenmeister mit Fesseln aus Eisen, gebunden sind die Liliths mit Ketten aus Blei.»

In einem mandäischen Text kommt ein Motiv vor, das in der jüdischen und arabischen Literatur eine grosse Rolle spielt. Gemeint ist Lilith als Störerin der ehelichen Beziehung:263 «Ich werde den Mann seinem Weibe entfremden und mit meinen Zaubereien werde ich sie zurückstossen und ihr Böses antun . . . Den Mann werde ich mit Eifer und Leidenschaft töten . . . und sie wird Waisen gebären.»

In diesem Zusammenhang soll noch kurz auf die Frage ein­ gegangen werden, ob sich Lilith auch in den gnostisch-koptischen Schriften findet, die in Nag Hammadi gefunden wurden, wie dies G. Quispel264 annimmt. Das Apokryphon des Johannes265 erwähnt in allen drei Versionen der Codices II, III und IV, ebenso wie der ihm entsprechende parallele Bericht des Kirchenvaters Irenäus266 über die sogenannte BarbeloGnosis, einen Aeon, namens Eleleth, der mit Lilith identifiziert wurde. Ausführlicher wird über diese Gestalt in einer anderen, gnostischen Schrift aus dem Codex II gesprochen, welche als «Das Wesen der Archonten»267 bezeichnet wird. Hier bittet Norea, eine Tochter der Eva, Eleleth, ihr zu helfen, da sie in die Gewalt der Archonten geraten sei. Eleleth ist die «Weisheit und der Grosse Engel, der vor dem Heiligen Geist steht.» Er wurde von diesem zu Norea geschickt, um sie aus der «Hand der Gesetzlosen» (d. h. der Archonten) zu erlösen

262 263 264 265

E. M. Yamauchi: MAIT pag. 261 (Text 24) E. M. Yamauchi: MAIT pag. 297 (Text 33) Schriftl. Mitteilung von Prof. G. Quispel M. Krause & P. Labib: Die drei Versionen des Apokryphon des Johannes i. Abhand­ lungen des Deutschen Archäologischen Instituts Kairo. Wiesbaden 1962 Vol. I (Cod. 11:8, 18; 9, 23. Cod. III: 14, 7. Cod. IV: 13, 1 266 Irenäus: Adv. haer. I 29, lf 267 W. Foerster: The Hypostasis of the Archons i. Gnosis. A Selection of Gnostic Texts. Oxford 1972 Vol. I pag. 49f

und sie gleichzeitig über «die Wurzeln» (nämlich der Wahrheit und des Ursprungs) zu belehren. In diesen, wenigen Textstellen erscheint Eleleth als ein hilfreiches Wesen, als ein Lichtaeon oder eine göttliche Hypostase aus dem Lichtreich, also einer Art Sophia-Gestalt. Ich kann mich der Hypothese von der Identität von Lilith mit Eleleth nicht anschliessen, da Eleleth die für Lilith typischen Seiten völlig abgehen. Abgesehen von einer entfernten Ähnlichkeit der beiden Namen, scheint mir ein innerer Bezug zwischen den beiden Gestalten nicht vorzuliegen. Schliesslich ist noch zu erwähnen, dass C. H. Gordon, der seinerzeit behauptet hatte, die Linear A Schrift der minoischen Schrift von Knossos entziffert zu haben und sie als eine semitische Schrift identifizieren wollte, auf eine Stelle hinweist, in welcher in dieser Schrift von La-le gesprochen werde, die er mit Lilith identifizierte. Abgesehen davon, dass wir von La-le so gut wie nichts wissen, wird auch die Hypothese C. H. Gordons von fast sämdichen Spezialisten der Epigraphik abgelehnt.

7) Pseudepigraphische Schriften a) Das Alphabet des ben Sira

Zeidich anschliessend an die gnostischen und aramäischen Texte folgt eine pseudepigraphische Schrift, die ungefähr aus dem neunten oder zehnten nachchristlichen Jahrhundert stammen dürfte.268 Sie scheint offenbar während des ganzen späteren Mittelalters weiteste Verbreitung gefunden zu haben. Jedenfalls war sie dem Verfasser des Sohar, Mose de Leon bekannt, da er auf diese Schrift Bezug nimmt.269 Das Werk ist in verschiedenen Versionen erhalten. Es enthält vier Teile. Der erste berichtet die Lebensgeschichte des ben Sira, der zweite erzählt, wie der Lehrer des ben Sira ihm das Alphabet beizubringen versucht, der dritte schildert das Leben am Hofe des Nebukadnezar, bei dem sich ben Sira aufhielt. Der vierte Teil, welcher dem ganzen Werk seinen Namen gegeben hat, enthält 22 268 Die genaue Datierung ist noch umstritten 269 Sohar I 34b. Die Stelle lautet: «In alten Büchern fanden wir .. .» und bezieht sich nach G. Scholem auf das Alphabet.

alphabetisch geordnete Epigramme, welche vom Sohne und dem Enkel des ben Sira kommentiert werden.270 Die Textstelle, welche sich auf Lilith bezieht, lautet folgendermassen:271 «Als Gott Adam erschuf, sagte er: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei. Daher erschuf er für ihn eine Gehilfin, ebenfalls aus Erde (Andere Lesart: aus der gleichen Erde) und nannte sie Lilith. Sobald sie geschaffen war, begann sie einen Streit und sagte: Weshalb sollte ich unten liegen? Ich bin ebenso viel (wert) wie du, wir sind beide aus Erde geschaffen. Als aber Lilith sah, dass sie Adam nicht überwältigen konnte, sprach sie den unaussprechlichen Gottesnamen aus und flog in die Luft. Adam betete und sagte: Herr der Welt. Die Frau, die du mir gegeben hast, ist von mir weggegangen. Darauf sandte Gott drei Engel, die sie zurückbringen sollten. Diese sagten zu ihr: Gott hat beschlossen: Wenn du zurückkehren willst, ist es gut. Wenn nicht, dann musst du als Strafe es auf dich nehmen, dass jeden Tag hundert Kinder von dir sterben. Die Engel suchten Lilith und fanden sie im reissenden Wasser, in demselben Wasser, in dem später die Ägypter ertrinken sollten. Sie meldeten ihr den göttlichen Befehl. Aber sie weigerte sich, zurück­ zukehren. Da sagten sie (die Engel) zu ihr: Wir müssen dich in diesem Wasser ertränken. Aber sie bat und sagte: Lasst mich, denn ich bin dazu geschaffen worden, kleine Kinder zu verderben. Wenn es ein Knabe ist, werde ich acht Tage, wenn es ein Mädchen ist, werde ich zwanzig Tage Gewalt über das Kind haben. Als sie ihre Worte hörten, drängten sie sie noch mehr, dass sie ihnen gehorche. Da sagte sie: Ich schwöre euch im Namen des lebendigen und grossen Gottes : Wenn ich eure Namen auf einem Amulett geschrieben sehen werde, dann werde ich das Kind nicht schädigen. Sie nahm es auch auf sich, dass jeden Tag hundert ihrer Kinder starben. Wenn wir jetzt diese (Engel-)Namen auf ein Amulett schreiben, dann erinnert sie sich dieses Schwures und das Kind ist gerettet. Die Namen der Engel sind: Sanvai, Sansanvai und Semangloph.»

Kommentar:

Es scheint, dass hier zwei Versionen ineinander gearbeitet wurden. In der einen Version kommen die drei Engel zur Erde, wo sie sogleich mit Lilith ihr Gespräch beginnen. In der anderen Version gehen sie erst auf die Suche nach Lilith, die sie schliesslich im Wasser finden. Der Ausgangspunkt der Erzählung von den beiden Frauen Adams, Lilith und Eva, bilden die beiden Berichte der Genesis über die Erschaffung der Frau. Nach dem Bericht des Priesterkodex (P) in Gen. l,26f wurde das erste Menschenpaar gleichzeitig aus der gleichen Erde geschaffen. Demgegenüber hat der Jahwist (J) in Gen.

270 Y. Dan: JE. Jerusalem 1972 Vol. IV s. v. Alphabet de ben Sira 271 J. D. Eisenstein: Ozar Midraschim. New York 1928 pag. 35

2,21 ff einen etwas abweichenden Bericht gegeben, nach welchem Eva am sechsten Tage aus einer Rippe Adams erschaffen wurde. Unser Midrasch bezieht nun den ersten Schöpfungsbericht auf Adam und Lilith, den zweiten dagegen auf Adam und Eva. Im Buche Raziel wird daher Lilith als die «erste Eva» bezeichnet. Nach unserem Text ist somit Lilith die erste Frau Adams. Doch schon nach kurzer Zeit bricht zwischen den beiden Ehepartnern ein heftiger Machtkampf aus. Dieser entzündete sich an der Frage der «Position» der beiden Partner beim ehelichen Verkehr. Lilith weigerte sich, «unten» zu liegen. Aber auch Adam war nicht bereit, diese «Position» zu akzeptieren. Diesen Kampf konnte Lilith nicht gewinnen. Die Folge war, dass sie Adam verliess und entweder — wie in unserem Texte — in die Luft, oder, nach anderen Traditionen ans Rote Meer oder in die Wüste floh, wo sie auch von den drei Engeln aufgefunden wurde. Die Kinder, die Lilith geboren hatte, werden als Dämonenkinder bezeichnet. Offenbar hat Lilith trotz ihrer Verbindung mit Adam ihren dämonischen Charakter nicht abgelegt, sie hat ihn vielmehr ihren Kindern weiter gegeben. Die drei Engelnamen Sanvai, Sansanvai und Semangloph272 finden sich von da ab in zahlreichen handschriftlich erhaltenen Schilderungen seit dem 12. Jahrhundert sowie regelmässig auf allen jenen Amulett-Texten, die gegen Lilith gerichtet sind. b) Das Buch Raziel

Das Buch Raziel ist eine Schrift, welche der Legende nach Adam drei Tage nach seiner Vertreibung aus dem Paradiese vom Engel Raziel übergeben wurde, und in welchem die Geheimnisse aller Zeiten enthüllt werden. Es wird daher auch als das «Buch des ersten Menschen» bezeichnet. In Wirklichkeit handelt es sich um eine, nur wenige Blätter umfassende, pseudepigraphische Schrift, welche in einer Collectaneen-Sammlung enthalten ist. Die Autorschaft wird von einigen Forschern, wie L. Zunz 273 zu Unrecht dem Eleazar von Worms, einem der sogenannten «Frommen Deutschlands» zuge272 Andere Lesart: Senoi, Sansenoi und Semangloph 273 L. Zunz: Die gottesdiensdichen Vorträge der Juden. Berlin 1832 pag. 168 Anm. a

schrieben. Diese Collectaneen-Sammlung enthält nämlich ganz ver­ schiedene kosmologische, astrologische, mystische und magische Texte, sowie Textfragmente aus ganz verschiedenen Zeiten. So enthält sie u.a. den ersten Teil des Werkes Ssode rezaja, dessen Autor tatsäch­ lich Eleazar von Worms ist, daneben aber noch einen Teil des Sefer ha razim (Buch der magischen Geheimnisse), das wahrscheinlich bis in die talmudische Zeit zurückgeht, ferner Ausschnitte aus Werken der beiden spanischen Kabbalisten A. Abulafia und J. Gikatilla und andere kabbalistische Stücke aus der jüdischen Mystik vor I. Lurja. Das Buch wurde erstmals 1701 gedruckt und erlebte zahlreiche Neu­ auflagen, da nach dem jüdischen Volksglauben jener Zeit das Buch den Eigentümer vor Feuersbrunst und anderen Gefahren schützte.274 Auch das Buch Raziel enthält einen Beschwörungstext gegen Lilith:275 «Ich beschwöre dich, erste Eva, beim Namen dessen, der dich erschaffen hat und beim Namen der drei Engel, welche der Herr zu dir geschickt hatte und die dich auf den Inseln des Meeres gefunden hatten. Du hattest ihnen gegenüber geschworen, dass, wenn immer du ihre Namen finden würdest, dass weder du, noch deine Schar, irgend etwas Böses tun würdest, weder du selbst, noch deine Scharen, noch deine Diener, weder dieser Frau, noch ihrem Kind, das sie geboren hat, weder am Tag noch während der Nacht, weder in der Nahrung, noch in den Getränken, weder ihrem Haupt, noch ihrem Herzen, weder ihren 208 Gliedern noch ihren 365 Blutgefässen. Ich beschwere dich, deine Scharen und deine Diener durch die Macht dieser Namen und dieser Siegel.»

Kommentar:

Der Text ist mit dem vorangegangenen Text eng verwandt. Wenn sich die Annahme von M. Gaster,276 dass das Buch im zehnten Jahrhundert aus wesentlich älterem Material zusammengestellt wurde, als zutreffend erweisen sollte — was allerdings von ver­ schiedenen Autoren bestritten wird — dann ist nicht auszuschliessen, dass der Verfasser des Buches Raziel und der Autor des Alphabets des ben Sira unabhängig voneinander dieselbe Quelle 274 Y. Dan: JE. Jerusalem 1971 Vol. 13 s. v. Book of Raziel 275 Sefer Raziel: ed. Amsterdam 1701 Bl 43 B 276 M. Gaster: Two thousand years of a charm against the child-stealing whitch i. Studies and Texts in Folklore, Magic, Mediaeval Romance, Hebrew Apocrypha and Samaritan Archaeology. New York 1971 pag. 1008ff

benutzt haben. Angesichts der Schwierigkeiten einer exakten Datie­ rung bei beiden Schriften ist es aber auch durchaus möglich, dass der Autor des einen Werkes das andere kannte und benützte, wobei die Frage der Priorität allerdings vorläufig offen bleibt. Obwohl dieser Text die Bezeichnung «erste Eva» für Lilith verwendet, tritt Lilith hier doch ausschliesslich in ihrem Aspekt als furchtbare Mutter in Erscheinung. In ihrer Rolle als verführerische Anima tritt sie erst wieder in der jüdischen Mystik auf.

8) Lilith in der Volkslegende Im Laufe der Jahrhunderte hat sich der Lilith-Mythos weiter entwickelt und ist in die Folklore der verschiedensten Gegenden eingegangen. Es handelt sich um legendäre Erzählungen, die längere Zeit mündlich tradiert wurden und später ihre schriftliche Fixierung erfahren haben. Die Herkunft dieser Lilith-Legenden lässt sich aber einigermassen zurückverfolgen. Es sind zum Teil griechisch­ byzantinische, zum Teil jüdische Texte, die weiter verbreitet wurden. Die weite Verbreitung zeigt sich darin, dass koptische, äthiopische, armenische und syrische Legenden bekannt sind. Aber auch in den Westen sind diese Legenden gelangt und es sind Versionen aus der neugriechischen, südslawischen und russischen Folklore bekannt. Es wäre aber falsch, die weite Verbreitung des Motivs ausschliesslich aus ihrer Migration heraus erklären zu wollen. Die fast überall vorhandene Erzählung und eine gewisse primitive Darstellungsart weisen in die Richtung, dass hier ein archetypisches Motiv vorliegt und dass durch die Wanderung dieses Motiv konstelliert wurde. Bei allen diesen Legenden geht es um vielfach ausgeschmückte Erzählungen, in welchen ein kinderraubender und -tötender, weiblicher Dämon irgend einem Heiligen begegnet, der ihn über­ windet, indem er ihm das Geheimnis seiner mystischen Namen entreisst. Durch die Preisgabe der geheimen Namen wird der Dämon unschädlich gemacht und entfernt sich. In den jüdischen Texten tritt anstelle des oder der Heiligen stets der Prophet Elija. In dieser Form muss die Legende schon sehr alt sein, da, wie bereits erwähnt wurde, die Legende bereits im vierten

nachchristlichen Jahrhundert bei den Barbelo-Gnostikern bekannt war, die sie mit Sicherheit jüdischen Quellen entnommen haben.277 Die Erzählung wurde allmählich weiter ausgestaltet und erscheint schliesslich als Amulett-Text aus dem 17. Jahrhundert. Es handelt sich um jenen Text, der von J. A. Montgomery278 irrtümlicherweise als Text aus einer aramäischen Zauberschale von Nippur gehalten wurde. Er lautet:279 «Als der Prophet Elija einst seines Weges ging, traf er Lilith und ihre Schar. Er sagte zu ihr: Oh, du böse Lilith, wohin gehst du mit deiner unreinen Schar? Und sie antwortete: Mein Herr Elija. Ich bin im Begriffe zu der Frau zu gehen, die ein Kind geboren hat, um ihr den Schlaf des Todes zu bringen, ihr das Kind, das ihr geboren wurde, wegzunehmen, sein Blut zu trinken, das Mark seiner Knochen auszusaugen und das Fleisch übrig zu lassen (AndereVersion: aufzufressen). Elija antwortete und sagte: Ich beschwöre dich mit dem grossen Bann, dass du in einen stummen Stein verwandelt wirst durch den Willen Gottes. Und Lilith sagte: Mein Herr, um Gottes Willen, nimm diesen Bann weg, so dass ich wegfliegen kann. Ich schwöre im Namen Gottes, dass ich die Wege meiden werde, die zu einer Frau mit einem neugeborenen Kind führen. Wenn immer ich meine Namen höre oder sehe, werde ich sogleich verschwinden. Ich werde dir meine (geheimen) Namen sagen. Wenn immer du sie aussprichst, dann haben weder ich noch meine Schar Macht, in das Haus einer gebärenden Frau einzutreten und sie zu quälen. Ich schwöre dir, meine Namen zu enthüllen, so dass du sie aufschreiben kannst und sie in dem Zimmer aufhängst, in dem sich ein neugeborenes Kind befindet. . . Wer immer diese Namen kennt und sie aufschreibt, veranlasst, dass ich von dem neugeborenen Kind fliehe. Deshalb hänge dieses Amulett auf im Zimmer der gebärenden Frau.»

In der Folge offenbart Lilith dem Propheten alle ihre geheimen Namen. Einer davon ist Abizo, was wahrscheinlich mit den Bezeich­ nungen Abyzou und Byza zusammenhängt, welche Namen ihrer­ seits mit Obyzouth in Verbindung stehen.280 Ein anderer Name der Lilith ist Ailo, der als Alü bereits in den babylonischen Beschwörungs­ texten vorkommt.281 Auf die flehentliche Bitte Liliths antwortet Elia: «Ich beschwöre dich und deine Schar im Namen JHWH’s, des Gottes Israels, Abrahams, Isaaks und Jakobs, im Namen der heiligen Schechina, im Namen der 277 Vgl. pag. 83 278 Vgl. pag. 83

279 M. Gaster: 1. c. pag. 1025. Die von J. A. Montgomery gegebene Legende weicht in verschiedenen Punkten von der vorliegenden Version ab.

280 Vgl. pag. 69 281 Vgl. pag. 26

zehn Seraphim, Ophanim und der heiligen Tiere, sie seien gelobt, dass du und deine Schar dieser Frau keinen Schaden zufügst...»

Elia nimmt also eine nochmalige Beschwörung vor. Dies geht aus der feierlichen Einleitungsformel hervor: «Sanvai. Sansanvai. Semangloph. Adam und Eva. Hinaus mit Lilith.»

Aus parallelen Legenden lässt sich vermuten, dass er Lilith vom Banne erlöst und sie weggeht. Von dieser Elia-Erzählung gibt es eine ganze Anzahl von Varianten, die von M. Gaster282 gesammelt wurden, der dabei ver­ schiedene Typen dieser Erzählung unterscheidet. Bereits im Jahre 1645 hat Leo Allatius zwei griechisch-byzantinische Versionen veröf­ fentlicht.283 Wie in allen byzantinischen Texten heisst der kinderrau­ bende Dämon Gello oder Gyllo284 und in den ihnen entsprechenden hebräischen Legenden Gilu. Dieser Name entspricht dem baby­ lonischen Gallü. Gyllo ist ständig auf der Suche nach neugeborenen, christlichen Kindern, die sie stiehlt, um sie zu töten. Auf ihrem Weg trifft sie die beiden Heiligen Sisynios und Synodoros. Gyllo hat der Schwester der Heiligen Melitena, die sieben Kinder geraubt. Die beiden Heiligen schlagen Gyllo so lange, bis diese um Gnade fleht:285 «Lasst mich, oh Heilige des Herrn und schlagt mich nicht länger. Denn ich will euch sagen, was getan werden kann, damit ich nicht imstande sein werde, in die Häuser (der Christen) zu gehen und ich 75 Meilen von ihnen ferngehalten werde . . . Wenn jemand meine zwölf und einhalb Namen niederschreibt, so werde ich nicht in sein Haus eintreten, noch in das Haus des N. des Dieners des Herrn, noch seines Weibes oder seiner Kinder, und ich werde mich 75 Meilen entfernt halten . . . Mein erster Name ist Gyllo, der zweite Morrha, der dritte Byza . . . und der halbe Strigla.

Nachdem die beiden Heiligen die geheimen Namen erfahren haben und Gyllo die geraubten Kinder der Malitena zurückgebracht hat, lassen sie sie ziehen. Es ist offensichtlich, dass die Heiligen Sisynios und Synodoros den im Alphabet des ben Sira erwähnten Engeln Sanvai und 282 M. Gaster: 1. c. pag. 1005ff 283 M. Gaster: 1. c. pag. 1018ff

284 Vgl. pag. 28

285 M. Gaster: 1. c. pag. 1021

Sansanvai entsprechen. Gelegentlich wird in christlichen Legenden statt der beiden Heiligen ein heiliger Sisoe genannt. In den von H. Gollancz286 edierten syrischen Beschwörungstexten ist ein «Bannfluch des Mar Abd’Isho, des Mönchs und Eremiten Gottes» erwähnt. Auch dieser Heilige trifft auf einen weiblichen Dämon. Er ergreift ihn, bindet ihn und verflucht ihn, um von ihm das Geheimnis seiner geheimen Namen zu erfahren. Einer dieser Namen ist Lilitha, ein anderer «Würgemutter der Knaben».287 Eine ähnliche Variante wird von F. Pradel erzählt. In dieser, aus dem heutigen Griechenland stammenden, aber auf weit älterem, mündlich tradierten Material beruhenden Erzählung, trifft der vom Sinai herabsteigende Erzengel Michael die dämonische Abouzou. Auch er fragt sie, wohin sie gehe. Sie antwortet:288 «Ich krieche in die Häuser wie eine Schlange, wie ein Reptil oder wie ein Drache. Ich bringe alle Übel. Ich lasse die Milch der stillenden Frauen vertrocknen und wecke die Kinder auf, um sie zu töten.»

Eine bis in Einzelheiten hinein gleiche Legende hat R. Reitzen­ stein289 veröffentlicht. Der weibliche Dämon wird in dieser Version als Baskania, Baskosyne oder einfach kurz «die Würgerin» genannt. Eine ganz moderne Variante aus dem Leben der heutigen rumänischen Bauern hat M. Gaster290 veröffentlicht. Der gefährliche Dämon heisst Avezuha, hat aber noch zahlreiche andere Geheim­ namen, wie Avestitza. Der Text hat hier beinahe die Erzählungsweise eines Märchens angenommen. Aber die ursprünglichen, mythischen Züge sind noch klar erkennbar. Einen parallelen Text hatte bereits U. Cassuto ediert. Verwandt mit diesen Legenden ist eine Erzählung einer spaniolischen Jüdin aus Palästina, welche von Hanauer veröffentlicht und von R. C. Thompson291 und später von J. Trachtenberg292 zitiert wird. Auch hier tritt eine der Lilith verwandte Figur auf, deren Name la 286 287 288 289 290 291 292

H. Gollancz: 1. c. pag. 69 H. Gollancz: 1. c. pag. 84 F. Pradel: 1. c. pag. 23 R. Reitzenstein: 1. c. pag. 297f M. Gaster: 1. c. pag. 1008f R. C. Thompson: Semitic Magic. London 1908 pag. 42 Anm. 1 J. Trachtenberg: Jewish Magic and Supersition. New York 1939 pag. 278 Anm. 34

bruscha ist. Sie dringt in Gestalt einer grossen, schwarzen Katze in die Wöchnerinnenstuben ein und raubt das Kind. Der Name leitet sich vom spanischen bruja293 oder dem portugiesischen bruxa ab, dem das provengalische bruesche entspricht. Das Wort bedeutet, analog wie die Striges, eine Hexe und eine räuberische Nachteule. Kommentar:

Es dürfte sehr schwierig, wenn nicht unmöglich sein, fest­ zustellen, ob die christlichen, d. h. griechisch-byzantinischen und die späteren, syrischen, äthiopischen, südslawischen und rumä­ nischen Versionen aus jüdischen Quellen geschöpft haben und erst sekundär christianisiert wurden. Es kann aber auch — wie M. Gaster294 annimmt — nicht ausgeschlossen werden, dass die LilithLegenden aus dem Mittleren Osten, vielleicht aus Babylonien stammen. Von da gelangten sie nach dieser Auffassung einerseits zu den Juden, die sie judaisierten, andererseits zu der gnostischen Sekte der Manichäer und von diesen auf dem Umweg über die neumanichäischen Bogumilen in Bulgarien, in den Westen zu den Katharern und Albigensern. Die Lösung dieser Frage der Priorität ist ein religionshistorisches Anliegen. Vom psychologischen Standpunkte aus könnte man sich allerdings auch fragen, ob hier nicht ein archetypisches Motiv vorliegt, das — unabhängig durch direkte Beeinflussung infolge Migration — an ganz verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten auftreten kann, wobei, je nach der Umgebung, in welcher das Motiv auftritt, es mehr eine christliche oder eher eine jüdische Färbung annimmt. In den von M. Gaster herausgegebenen rumänischen Texten, lautet der Name des Dämons Avestitza. H. A. Winkler295 hat vermutet, dass sich dieser Name vom slawischen Vjessica, d. h. Hexe ableitet. Näherliegend scheint mir indessen die Hypothese M. Gasters, der diese Bezeichnung mit der Obyzouth im Testament Salomos in Zusammenhang bringt. In diese Richtung weisen auch andere,

293 L. Tolhausen: Neues spanisch-deutsches und deutsch-spanisches Wörterbuch. Leipzig 1897 Vol. I s. v. bruja 294 M. Gaster: Lilith und die drei Engel i. Studies and Texts. 1. c. pag. 1257 295 H. A. Winkler: 1. c.

ähnlich klingende Namen der Lilith, wie Abiza, Byza oder Abouzou, was nach B. Schmidt296 Blutsaugerin bedeuten soll. Allen diesen Volkslegenden gemeinsam ist die Tatsache, dass ein gefährlicher, weiblicher Dämon von einem oder zwei überlegenen männlichen Heiligen oder einem Propheten überwältigt, unschäd­ lich gemacht und schliesslich vertrieben wird. Zwar tritt Lilith, oder die ihr entsprechenden Dämonen auch hier in ihrem Aspekt als furchtbare Mutter auf. Der Aspekt der verführerischen Anima fehlt bis auf einige wenige Ausnahmen. Aber es ist bezeichnend, dass sich diese Seite nicht gegen den Heiligen richtet. Dieser ist vielmehr eine Art Schutzgeist der gefährdeten Mutter und ihrer Kinder. In der Melitena-Vcrsion treten die beiden Heiligen für ihre Schwester ein, in der Avezuha-Version ist der Erzengel Michael der Schützer Marias und des Jesuskindes. In der Abouzou-Version schützt ebenfalls der Erzengel Michael die gefährdeten Frauen und ihre Kinder. Es ist bezeichnend, dass — abgesehen von der Überarbeitung des jüdischen Textes durch die Barbelo-Gnostiker — diese Über­ windung immer durch einen männlichen Helden erfolgt. Die Frau ist dem Dämon schutzlos ausgeliefert und wehrt sich nicht. Auf die psychologischen Aspekte dieses Motivs soll später eingegangen werden.

9) Lilith in der arabischen Literatur: Die Karina Auch in der arabischen Literatur hat der Lilith-Mythos seinen Niederschlag gefunden. Die einschlägigen arabischen Texte stam­ men ungefähr aus dem 13. Jahrhundert, also aus einer Zeit, in welcher bereits eine jahrhundertelange christliche und jüdische Tradition existierte. In seinem Werke Schams Al Ma’arif erwähnt der arabische Verfasser al Buni, der sich vor allem mit magischen Praktiken beschäftigt, einen kinderraubenden und -tötenden Dämon, der unter drei verschiedenen Namen auftritt. Häufig wird er als Um-al-Sibjan, d. h. Mutter der Kinder297 bezeichnet, gelegentlich heisst er Tabxa. Meistens aber tritt er unter dem Namen Karina auf. 296 B. Schmidt: 1. c. pag. 139ff 297 Auch im Sohar wird Lilith an einer Stelle als «Mutter der Kinder» bezeichnet. Diese Bezeichnung dürfte aus dem Arabischen übernommen sein.

Karina bedeutet ursprünglich so viel wie Gefährtin und entspricht dem ebenfalls erwähnten männlichen Gefährten oder Karin. Die Karina ist ein weiblicher Dämon, der noch heutzutage in gewissen arabischen Ländern, vor allem in Ägypten und Marokko gefürchtet ist. Auch in den arabischen Legenden findet sich das bekannte Motiv von der Überwindung eines weiblichen Dämons durch einen Helden. Auch hier wird der Dämon unschädlich gemacht, indem der Held ihm das Geheimnis seiner mystischen Namen entreisst. In der arabischen Literatur ist dieser Held meist König Salomo, der grosse Meister und Herr über alle Geister und Dämonen, ein Motiv, das ursprünglich aus jüdischen Quellen stammt. In einem arabischen Text, den H. A. Winkler veröffentlicht hat, heisst es:298 «Nach einigen wird berichtet, dass er (Salomo) eines nachts mit der Karina zusammengetroffen sei. Er fand sie von düsterem Antlitz und dunkelblau war die Farbe ihrer Augen. Er sprach zu ihr: Wohin willst du? Sie antwortete: Ich gehe zu dem, der im Schlosse seiner Mutter ist, ich esse sein Fleisch, trinke sein Blut und zermalme seine Knochen. Da sprach er: Der Fluch Allahs sei auf dir, du Verfluchte. Da sprach sie: Verfluche mich nicht, habe ich doch zwölf Namen. Wer sie kennt und sie sich umhängt, dem werde ich nicht nahen. Wenn man sie sich aufschreibt, hat man nichts zu befürchten, mit Allahs, er ist erhaben, Erlaubnis.»

Kommentar:

Auch hier erscheint die Lilith ähnliche Gestalt als ein kinder­ raubender und -tötender Dämon. Die blaue Farbe ihrer Augen weist auf die im Mittelmeergebiet und im Osten bekannte Vorstellung hin, dass Blau die Farbe der Dämonen sei. Möglicherweise hängtauch das gebräuchliche Bemalen vieler Häuser mit blauer Farbe mit einer Abwehr der Dämonen zusammen. Völlig neu ist den arabischen Texten die Rolle der Karina als eine Art Schattenfigur der Frau, wie andererseits der Karin dem Schatten des Mannes entspricht. Heiratet die Frau, dann heiratet die Karina den Karin des Mannes. Wird die Frau schwanger, dann entfaltet die Karina ihre unheilvolle Tätigkeit. Sie versucht zunächst, die Frau zu verdrängen und sich an ihre Stelle zu setzen. Trifft die Karina die 2,8 H. A. Winkler: 1. c. pag. 3

schwangere Frau an, dann schlägt sie sie auf den Leib, um eine Fehlgeburt zu erreichen. Gelingt ihr dies nicht und die Frau bekommt Kinder, dann bekommt auch die Karina ebensoviele Kinder. In der Beziehung zwischen Mann und Frau versucht die Karina, ständig, Zwietracht herbeizuführen:299 «Ich bin die Karina. Ich schaffe Zwietracht zwischen dem Mann und der Frau. Ich lasse die Frauen Fehlgeburten haben, ich mache sie unfruchtbar. Ich mache Männer zeugungsunfähig. Ich erfülle Ehemänner mit Liebe zu den Frauen anderer Männer, Ehefrauen mit Liebe zu den Männern anderer Frauen, kurz, ich tue das Gegenteil dessen, was verheiratete Menschen glücklich macht.»

Kommentar:

In diesem Text spielt die Karina eine weitere Rolle, nämlich als Störerin der ehelichen Beziehungen. Dieselbe Rolle spielt Lilith auch in der jüdischen Tradition. Dabei lässt es sich nicht mit Sicherheit nachweisen, ob al Buni dieses Motiv, das sich in dem zeidich ungefähr ebenfalls damals entstandenen Sohar niederge­ schlagen hat, kannte oder, was weniger wahrscheinlich ist, ob der Autor des Sohar das Werk al Bunis kannte und benützte. Psychologisch interessant ist das Motiv, dass sich neben Gatte und Gattin auch Karin und Karina, bzw. die beiden Schattenfiguren heiraten. Dadurch kommt es zu einer sich überkreuzenden ViererBeziehung, die von C. G. Jung 300 als Quaternio bezeichnet wird. Es darf aber nicht übersehen werden, dass hier kein klassischer HeiratsQuaternio im Sinne von C. G. Jung vorliegt. In diesem verbinden sich nämlich einerseits Gatte und Gattin, andererseits die ihnen ent­ sprechenden Animus und Anima. In unserem Falle dagegen kommt es zur Verbindung der beiden Schattenfiguren, was diesem Quaternio einen anderen Charakter verleiht. Wie Lilith, so erscheint auch die Karina dem Manne in seinen erotischen Träumen und versucht, ihn im Traum zu verführen und sich mit ihm zu vereinigen. Ebenso versucht sie, das Kind der Ehefrau aus dem Mutterleibe zu rauben und zu töten. 299 H. A. Winkler: 1. c. pag. 27 300 C. G. Jung: Psychologie der Übertragung i. GW. Zürich 1958 Vol. XVI pag. 237

Im ganzen Vorderen Orient gibt es zahlreiche bildliche Dar­ stellungen der Begegnung eines Heiligen oder heiligen Helden mit einem weiblichen Dämon. In diesen Bildern geht es aber weniger darum, dem Dämon das Geheimnis seiner mystischen Namen zu entreissen. Vielmehr versucht hier der Dämon, den Heiligen oder Helden zu verführen, mit anderen Worten hier tritt mehr der AnimäCharakter in den Vordergrund. So zeigt ein koptische Fresko aus dem 6. Jahrhundert einen heiligen Sisynios. Der weibliche Dämon wird dargestellt mit nacktem Oberkörper und aufgelöstem Haar, das wild hinter seinem Rücken flattert. Die Frau versucht, den Heiligen zu verführen, der aber standhaft widersteht. Andere Bilder zeigen ganzoder halbnackte verführerische Frauen mit betonten Brüsten und flatterndem Haar, die von Salomo oder — in der christlichen Variante — von einem Heiligen besiegt werden.301

10) Lilith in der jüdischen Mystik: Lilith und Samael Der Lilith-Mythos hat im späteren Mittelalter auch im mystischen Schrifttum der Juden, der Kabbala, Eingang gefunden. Neben dem Aspekt des kinderraubenden und -tötenden weiblichen Dämons erscheint hier Lilith deutlich auch als verführerische Frau, d. h. in ihrem Anima-Aspekt. Im Hauptwerk der Kabbala, dem Buche Sohar, das zu Beginn des 14. Jahrhunderts vom spanischen Kabbalisten Mose de Leon verfasst wurde, gibt es zahlreiche Textstellen, in denen direkt oder indirekt von Lilith gesprochen wird. Dabei übernimmt der Autor ver­ schiedene Motive, die sich im älteren, teilweise auch nichtkabba­ listischen Schrifttum vorfinden, z. B. dem Alphabet des ben Sira.302 Auch im Sohar erscheint Lilith als die erste Frau Adams, die sich von ihm nach einer heftigen Auseinandersetzung entfernte. Wie der Autor des Alphabets des ben Sira, so knüpft auch der Verfasser des Sohar an den doppelten Schöpfungsbericht der Genesis an. Aber daneben hat sich im Sohar auch eine alte, talmudische Tradition fortgesetzt.303 Nach dieser Version war der Urmensch, Adam, in 301 H. A. Winkler: 1. c. pag. 163

’0J Vgl. pag. 92 303 g-j-. j- raktat Erubin 18a

seiner ursprünglichen Gestalt sowohl männlich wie weiblich. Erst später wurde dieser Hermaphrodit entzweigesägt, wobei die abge­ trennte Seite zu Eva wurde:304 «Der erste Mensch bestand aus Männlichem und Weiblichen, denn es heisst (Gen. 1,26): Lasst uns einen Menschen erschaffen, in unserem Ebenbild und in unserer Ähnlichkeit. Daher wurde er männlich und weiblich geschaffen und erst später getrennt.»

Zum Verständnis dieser Stelle muss darauf hingewiesen werden, dass die Kabbala sehr genau zwischen dem irdischen ersten Menschen (Adam rischon) und dem himmlischen, mythischen Urmenschen (Adam qadmon) unterscheidet. Letzter ist ein androgynes Wesen und entspricht teilweise den Vorstellungen vom Urmenschen in den verschiedensten Religionen, z. B. dem ira­ nischen Gayomart, dem indischen Puruscha, dem platonischen Urmenschen und dem gnostischen Anthropos. Nach dem Sohar ist die spätere Erschaffung Evas durch Ab­ trennung vom ebenfalls mannweiblichen ersten Adam die eigent­ liche Ursache für den Weggang Liliths:305 «Später sägte Gott den Menschen entzwei und formte seine weibliche Seite. Er brachte sie (sc Eva) zu ihm wie eine Braut ins Brautlager. Als Lilith dies sah, floh sie und sie ist noch jetzt in den Städten der Seeküste und versucht dort, die Menschen zu fangen.»

Als eigentliche Verführerin des Mannes wird Lilith an ver­ schiedenen Stellen des Sohar erwähnt. Als Beispiel diene folgende T extperikope:306 «Sie (Lilith) schmückt sich mit allerlei Zierat, wie eine buhlerische Frau. Sie steht am Anfang der Wege und Pfade, um Männer zu verführen. Den Toren, der sich ihr nähert, ergreift sie, sie küsst ihn und giesst ihm Wein mit dem Bodensatz von Schlangengift ein. Sobald er diesen getrunken hat, folgt er ihr nach. Wenn sie sieht, dass er vom Wege der Wahrheit abkommt und ihr folgt, dann zieht sie alles wieder ab, was sie für diesen Toren zuerst angezogen hatte. Ihr Schmuck zur Verführung der Männer sind die zurechtgemachten Haare, die rot sind wie eine Rose, ihre 304 Sohar II 55a 305 Sohar III 19a 306 Sohar I 148a/b

Wangen sind weiss und rot, von ihren Ohren hängen Ketten aus Ägypten und von ihrem Nacken hängen alle Schmuckstücke aus dem Osten. Ihr Mund ist (klein) wie eine enge Türe, anmutig in seinem Schmuck, ihre Zunge ist scharf wie ein Schwert, ihre Worte sanft wie ÖL Ihre Lippen sind rot wie ein Rose, süss von aller Süsse der Welt. Sie ist purpurrot gekleidet, geschmückt mit dem ganzen Schmuck der Welt, mit 39 Schmuckstücken. Jene Toren, die bei ihr einkehren und diesen Wein trinken, treiben mit ihr Hurerei. Was tut sie nachher? Sie lässt ihn allein schlummernd auf seinem Lager, sie aber erhebt sich in die Höhe (Himmel). Dort berichtet sie Böses über ihn. Dann erwirkt sie die Erlaubnis, wieder hinunter zu kommen. Wenn der Tor aufwacht, dann meint er, er könne sich, wie vorher, mit ihr vergnügen. Sie aber entledigt sich ihres Schmuckes und verwandelt sich in eine kraftvolle Gestalt. Sie steht ihm gegenüber, angetan mit einem feurigen Kleid aus Flammen. Sie erregt Schrecken und lässt Körper und Seele erzittern. Ihre Augen sind gross, in ihren Händen ist ein scharfes Schwert, von dem bittere Tropfen herab fallen. Sie tötet ihn (damit) und wirft ihn mitten in die Hölle.»

Der Text ist deswegen von Interesse, weil er eine Wandlung der Lilith nach der geglückten Verführung anzeigt. Nunmehr tritt der Todes-Aspekt der furchtbaren Mutter in den Vordergrund. Aber meistens geht es der Lilith nicht darum, den Mann umzubringen. Sie will ihn vielmehr verführen, um von ihm Kinder zu empfangen:307 «R. Isaak sagte: Seit der Zeit, da Kain Abel tötete, war Adam von seinem Weibe getrennt. Damals pflegten zwei weibliche Geister zu ihm zu kommen und mit ihm zu verkehren. Er zeugte mit ihnen Dämonen und Geister, die durch die ganze Welt streifen. Dies ist nicht verwunderlich, denn auch jetzt noch, wenn ein Mann im Schlafe träumt, kommen häufig weibliche Gestalten zu ihm und treiben sich dort herum. Sie empfangen von ihm (durch seinen nächtlichen Ausfluss) und gebären nachher. Die so geborenen Geschöpfe werden «Plagen der Menschheit» genannt. . . Ähnlich besuchen männliche Geister Frauen, machen sie schwanger, so dass sie Dämonen gebären, welche ebenfalls «Plagen der Menschheit» genannt werden.»

Neben Lilith gibt es noch andere weibliche dämonische Wesen, welche versuchen, den Mann zu verführen. Zu ihnen gehören Machlat, ihre Tochter Agrat und vor allem Na’amah, die im Sohar weitgehend mit Lilith identisch ist. Von Na’amah heisst es im Sohar:308 «Na’amah aber empfängt von ihnen (den Männern) in ihren lustvollen Träumen. Von dieser Lust wird sie schwanger, gebärt Dämonen und alle gehen zu der ersten 307 Sohar I 54b 308 Sohar I 19b & III 76b

Lilith, die sie aufzieht. Sie geht hinaus in die Welt. Wenn sie kleine Kinder sieht, heftet sie sich an sie, um sie zu töten.»

In diesem Text wird eine erste Lilith, die Gefährtin des Dämonen­ fürsten Samael erwähnt. Daneben existiert im Sohar noch eine zweite Lilith, welche die Frau des Dämonenfürsten Asmedai ist. Von Na’amah heisst es ferner:309 «Na’amah war die Mutter der Dämonen und von ihr stammen alle jene Dämonen ab, die bei den Männern schlafen.»

Wenn solche weibliche Geister:310 «. . . «Menschen finden, die allein in einem Hause schlafen, dann lungern sie um sie herum, legen sich auf sie und halten sich an ihnen fest. Dann empfangen sie von ihnen. Sie fügen ihnen auch Krankheiten zu.»

Die kabbalistische Tradition hat zum Lilith-Mythos ein neues Element hinzugefügt: es handelt sich um die Beziehung Liliths zum Bösen. Dieses erscheint personifiziert als Satan oder, wie dieser im Sohar meist genannt wird, Samael. In der nachtalmudischen Tra­ dition, z. B. in den Pirqe de’Rabbi Eliezer, ist Samael der Anführer der gefallenen Engel. G. Scholem hat festgestellt, dass sich das Motiv Lilith-Samael bereits im älteren, vorsoharischen Schrifttum nachweisen lässt. Es findet sich in den Schriften verschiedener kastilischer Kabbalisten, so bei den Brüdern Isaak und Jakob haKohen aus Soria und ihrem Schüler Moses aus Burgos, die es möglicherweise älteren, mündlich tradierten, orientalischen Quellen entnommen haben.311 Im Sohar werden Samael und Lilith, meist einfach «Samael und seine Gefährtin» genannt, an zahlreichen Stellen erwähnt. Sie werden hier zum Prototyp eines «unheiligen Paares» und damit zum eigent­ lichen Gegenspieler des «heiligen Paares», nämlich der beiden Sefirot Tif eret und Malchut. Zum Verständnis dieser Vorstellungen erweist 309 Sohar I 56b 310 Sohar I 19b 311 G. Scholem: Ursprung und Anfänge der Kabbala. Berlin 1962 pag. 26lf G. Scholem: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen. Zürich 1957 pag. 192

sich ein kurzer Exkurs in die Kabbala, insbesondere in die SefirotLehre der Kabbalisten als notwendig.312 Das Gottesbild der jüdischen Mystiker ist — sehr im Gegensatz zum Gottesbild der Tradition wie auch demjenigen der Religions­ philosophen — nicht statischer Art, sondern von höchster, innerer Dynamik: Aus dem fernen, unbekannten und verborgenen Urgründe, bei den Kabbalisten meist en Sof genannt — was soviel wie der oder das Endlose, Unendliche, bedeutet — entfalten sich in einer Reihe stufenweise auftretender Emanationen die zehn göttlichen Urzahlen oder Sefirot. En Sof ist das ununterscheidbare, in sich ruhende und in sich verschlossene Wesen, das vom Bewusstsein nur in negativen oder paradoxen Formulierungen umschrieben werden kann. Es entspricht so dem fernen, unbekannten deus absconditus der christlichen Mystiker. Aus dem Zustande der Ruhe und Verborgenheit tritt nun en Sof durch einen spontanen Akt seines Willens in einem innergöttlichen Entwicklungsprozess heraus und entfaltet sich in den Sefirot, wodurch er der menschlichen Meditation und Erkenntnis überhaupt erst zugänglich wird. Die Sefirot bilden in ihrer Gesamtheit den kabbalistischen Lebensbaum, dessen Wurzeln oben und dessen Äste unten sind, oder den kabbalistischen Urmenschen Adam qadmon, der das himmlische Urbild des irdischen Menschen bildet, wobei die einzelnen Sefirot den menschlichen Gliedern entsprechen, oder ein sich ständig in Bewegung haltendes Rad. Die reiche Symbolik, welche die Kabbalisten im Zusammenhang mit der Sefirot-Lehre entwickelt haben, nimmt innerhalb der jüdisch-mystischen Tradtion einen breiten Raum ein. Die Sefirot gruppieren sich meist in Gegensatzpaaren: so gibt es rechte und linke, männliche und weibliche, aktive und passive Sefirot. Innerhalb des sefirotischen Systems nehmen aber zwei Sefirot eine ganz besondere Stellung ein. Bereits die beiden ersten, emanierten Sefirot, Chochma (Weisheit) und Bina (unterscheidende Vernunft) werden als ein männliches und weibliches Gegensatzpaar dargestellt, wobei Chochma der Vater und Bina die Mutter ist. Diese 312 S. Hurwitz: The God Image in the Cabbala. i. Spring. New York 1954 pag. 39ff

Symbolik wird aber ganz besonders auf die sechste Sefira Tif eret (Pracht oder Erbarmen) und die zehnte Sefira, übertragen, welch letztere unter verschiedenen Bezeichnungen auftritt. Bald wird sie als Malchut, d. h. das Reich (Gottes), bald als Schechina, d. h. Einwohnung Gottes, bald als Kenesset Israel bezeichnet, d. h. Gemeinde Israels. Es handelt sich hier aber keineswegs um das irdische Volk Israel, sondern vielmehr um sein himmlisches Urbild, ähnlich wie der Adam qadmon die himmlische Entsprechung des ersten Menschen Adam rischon ist. Diese Vorstellungen basieren auf der sowohl Kabbalisten, wie Alchemisten und Philosophen gemeinsamen Lehre von der Entsprechung: Was oben ist, ist auch unten, oder, mit anderen Worten: Der Mikrokosmos ist nichts anderes als ein Makrokosmos, aber im kleinen und umgekehrt. In der Sefirot-Lehre ist die Sefira Tif eret das eigentlich männliche Element der Gottheit. Demgegenüber ist die Schechina die — gelegentlich auch personifiziert vorgestellte — weibliche Seite der Gottpersönlichkeit. Dass Gott eine weibliche Seite zuerkannt wird, ist eine beinahe revolutionäre Auffassung der Kabbala, die dem biblisch-rabbinischen Judentum völlig fremd ist. Zwar ist auch diesem die Idee der Schechina bekannt. Indessen hat hier die Schechina lediglich die Bedeutung der Präsenz Gottes in der Welt. Erst in der Kabbala ist die entscheidene Wendung eingetreten und das Weibliche in die Gottheit einbezogen. Dies dürfte eine Kom­ pensation der Entwertung des Weiblichen im Judentum sein, wird doch durch die Einbeziehung des Weiblichen in die Gottheit eine Werterhöhung des Weiblichen zum Ausdruck gebracht. Die Schechina wird häufig auch als Matronita, d. h. Herrin, oder als «oberste Frau» (ischa eljona),313 oder — in Übereinstimmung mit anderen gnostischen Ideen — als die «Lichtjungfrau>;314 bezeichnet, in deren «Geheimnis alles, was in der irdischen Welt weiblich ist, gründet.»315 Solange innerhalb der sefirotischen Welt, dem Pleroma, Einheit und Harmonie bestanden, befanden sich alle Sefirot in einer

313 Sohar II 54b 314 Sohar III 180a 315 G. Scholem: Schechina. Das weiblich-passive Moment in der Gottheit i. Von der mystischen Gestalt der Gottheit. Zürich 1962 pag. 177

gleichmässigen Ausgewogenheit, so dass der göttliche Lebensstrom vom en Sof her durch sämtliche Verbindungskanäle zu den einzelnen Sefirot strömte, sie belebte und erhielt. Dabei bilden die beiden Sefirot Tif eret und die Schechina das Zentrum der Einheit und Ganzheit im göttlichen Pleroma. Sie sind das göttliche oder «Heilige Paar», dem — auf der irdischen Ebene — die im sakra­ mentalen Sinne geführte Ehe von Mann und Frau entspricht. Eines der verwickeltsten Probleme der jüdischen Mystik ist die Frage nach dem Bösen. Auch hier zeigt sich der gnostische Charakter der Kabbala, die aber nie in eine antinomistische Heterodoxie mündete.316 Im Sohar hat sie keine einheitliche Beantwortung gefunden. Es gibt eine Auffassung, nach welcher das Böse durch eine Verselbständigung und Hypertrophie der linken, weiblichen Sefira Din, d. h. der richtenden Gewalten in Gott entstanden sei. Aus dieser Seite sind nach dieser Version des Sohar auch Samael und Lilith entstanden. Nach einer anderen Vorstellung steht dem Reiche der zehn hellen, reinen Sefirot eine ebenso dunkle Gegenhierarchie unreiner Sefirot gegenüber. Diese bilden in ihrer Gesamtheit die sogenannte «andere Seite» (sitra achra) oder die «Welt der Schalen» (kelippot). Es ist die dämonische und zerstörerische Seite der Gott­ persönlichkeit. Dieser finstere Bereich ist es, in welchem sich die negativen, dämonischen Kräfte entfalten, die — personifiziert — als Samael und Lilith erscheinen. So entspricht dem «Heiligen Paar» ein ebenso «Unheiliges Paar» unreiner Gestalten. Und wie die «Heilige Vereinigung» der hieros gamos, nämlich die Verbindung des Heiligen Königs und der Schechina, Einheit und Harmonie in Gott, Welt und Mensch garantierten, so spiegelt innerhalb des Bereichs des Unreinen und Bösen die Vereinigung von Samael und Lilith, die Verbindung des Weiblichen mit dem Bösen. Nun wurde aber die uranfängliche Harmonie in der Welt der Sefirot gestört. Durch eine tragische Entwicklung, die gleicherweise Gott, Welt und Mensch betrifft, wird der göttliche Lebensstrom entweder unterbrochen oder den unreinen Sefirot zugeleitet. Der Ursprung dieser katastrophalen Entwicklung liegt im Sündenfall Adams, der durch die Verfehlungen jedes einzelnen Menschen 316 G. Scholem: Gut und Böse in der Kabbala i. I.e. pag. 66ff

weitergeführt wird. Dadurch ist die ursprüngliche Harmonie zerstört und es entsteht ein Chaos in der Sefirot-Welt: Nichts mehr steht an dem Ort, an den es hingehört, alles ist irgendwie verschoben, auseinandergerückt und verzerrt. Dadurch wird der hieros gamos zwischen Gott und der Schechina unterbrochen, wodurch die Kraft des «hurerischen Weibes»,317 nämlich der Lilith, gestärkt wird. Sie versteht es, sich an die Stelle der Schechina zu setzen.318. Die Einheit Gottes kommt in der hmheit seines Namens, des Tetragramms JHWH zum Ausdruck. Nach einer Version des Sohars319 ist es Lilith, welche die Einheit des Gottesnamens zerreisst. Nach kabbalistischer Auffassung entspricht in diesem Namen das J (Jod) der Chochma, das erste H (He) der Bina, das W (Wav) der Sefira Tif eret, während das zweite H (He) der Schechina entspricht. Von der Lilith heisst es in diesem Zusammenhang: «Sie ist es, welche die beiden H ’s voneinander trennt und das Eintreten des W zwischen sie verhindert. Wenn Lilith sich zwischen dem einen und dem anderen H befindet, dann kann der Heilige, gelobt sei er, sie nicht miteinander verbinden.»

Infolge dieser tragischen Entwicklung wurde die weibliche Seite von der Gottpersönlichkeit abgetrennt. Indem Gott von seiner eigenen weiblichen Seite abgeschnitten wird, sind — psychologisch gesprochen — Geist und Gefühl nicht mehr in einer harmonischen Verbindung. Die Schechina, die ihren Ort bei Gott verloren hat, zieht nun mit dem jüdischen Volke ins Exil. So spiegelt dieses Geschehen auf der göttlichen Ebene die Heimatlosigkeit der Schechina, auf der menschlichen Ebene die Vertreibung des Volkes von seinem Boden. Ob das Exil der Schechina freiwillig ist oder ob sie von Gott gezwungen wurde, mit dem Volke ins Exil zu gehen, darüber existieren im Sohar verschiedene Auffassungen. Aber dereinst, wenn der Messias und mit ihm die Erlösung kommen wird, wird auch das jüdische Volk wieder in sein Land zurückkehren und mit ihm die Schechina, die dann wieder den ihr 317 Sohar I 148b 318 Sohar III 69a 319 Sohar I 27b

gebührenden Platz einnehmen wird. Die anfängliche Harmonie wird wiederhergestellt und «Gott und sein Name werden eines» sein.320 Eine der tiefsten und grossartigsten Ideen der Kabbala hat in jener Auffassung ihren Niederschlag gefunden, nach welcher nicht nur der erlösungsbedürftige Mensch Gott braucht, sondern dass, umgekehrt, auch Gott den Menschen nötig hat, damit der Zustand der Harmonie und Einheit wieder hergestellt wird. Damit wird der Mensch zum Erlöser Gottes, indem er durch seine Haltung, durch Gebet, Busse und Meditation die Heimkehr der Schechina zu Gott beschleunigt. Und in der von höchster dramatischer Spannung erfüllten Schilderung vom Tode des R. Simon ben Jochai — der während Jahrhunderten als Verfasser des Sohar gehalten wurde — enthüllt dieser mit visionärer Kraft den neuen hieros gamos des Heiligen Königs mit seiner Schechina.

11) Amulette gegen Lilith Wie ungemein lebendig der Lilith-Mythos und vor allem die Angst vor dieser dämonischen Gestalt bis zum heutigen Tage geblieben ist, zeigt die unermessliche Anzahl von Amuletten, die seit dem zehnten Jahrhundert erhalten geblieben sind und noch heute angefertigt werden. Die Amulette bestanden früher aus hand­ geschriebenen Texten auf Pergament und seit dem Anfang des 18. Jahrhunderts nicht selten aus gedruckten Texten auf Papier. Häufig werden auch gravierte Metall-Täfelchen verwendet, die entweder in der Wöchnerinnenstube aufgestellt oder Mutter und Kind umge­ hängt werden. Hierher gehören auch die sogenannten Kimpet-Zettel, d. h. Kindbett-Zettel, die an den vier Wänden des Zimmers angehef­ tet wurden. T. Schrire321 hat eine grosse Anzahl solcher Amulette aus den verschiedensten Ländern und Zeiten veröffentlicht, so aus Deutsch­ land, Persien, Afghanistan, Marokko, Kurdistan und Palästina. Die 320 Sech 14, 9 321 T. Schrire: Hebrew Amuletts. Their Decipherment and Interpretation. London 1966 pag. 149ff

Form der Amulette variiert sehr. Meistens sind es quadratische, seltener ovale Täfelchen. Gelegentlich haben sie Ähnlichkeit mit Mandalas. Wieder andere zeigen einen Davidsstern, in dessen sieben Feldern Inschriften angebracht sind, oder eine Hand, die — ähnlich der Hand der Fatimah bei den Arabern — Schutz gewähren soll. Auf einem Silber-Amulett aus Irbid am See Genezareth heisst es:322 «Im Namen des grossen Gottes. Amen. Hallelujah, für immer, Amen. Friede für Marian, der Tochter des S. und das ungeborene Kind in ihrem Innern, vor der Lilith ihres Brautlagers.»

Auf den bekanntesten Amulett-Text, der die Begegnung Liliths mit dem Propheten Elia schildert, wurde bereits hingewiesen.323 Auf den Amuletten wird, wie im vorliegenden Falle, Lilith entweder mit ihrem richtigen Namen angerufen und beschworen, oder es werden ihre geheimen Namen, wie Alu und Gilu genannt. Manche Amulette zeigen bildliche Darstellungen der gefesselten Lilith. Die grösseren Amulette enthalten Texte mit Anrufungen der drei Engel, die mit Lilith einen Vertrag schlossen, sowie Adam und Eva und der Erzväter und -mütter. Nirgends fehlt der Befehl: Hinaus mit Lilith.324 Gelegentlich werden auch Anweisungen gegeben, das Bett der Wöchnerin mit einem magischen Kreidekreis zu umgeben.325 Nach J. Scheftelowitz326 ist es bei slawischen Juden üblich, zum «Schutz einer Wöchnerin gegen böse Geister an den Wänden des Schlafzimmers mit einer Kohle oder Natron Kreise zu machen, ausserhalb derer die Worte geschrieben waren: Adam, Eva, hinaus mit Lilith. An die Türe des Schlafzimmers schreibt man die Namen: Sanvai, Sansanvai und Semangloph. Bei den mittel­ alterlichen Juden verschloss der Vater nach der Geburt eines Knaben in den ersten acht Tagen allabendlich sorgfältig die Türen, las in Gegenwart der nächsten Verwandten, die sich im Zimmer der Wöchnerin versammelt hatten, mehrere Stunden lang aus der Bibel vqr, dann zog er mit der Spitze des Degens einen Kreis um das Bett, in dem sich Mutter und Kind befanden.» 322 T. A. Montgomery: Some early Amulets from Palestine i. TAOS. New Haven 1911 Vol. XXXI pag. 272ff 323 Vgl. pag. 97 324 L. Blau: Das altjüdische Zauberwesen. Budapest 1898 pag. 86ff 325 J. Trachtenberg: 1. c. pag. 169 326 J. Scheftelowitz: Die altpersische Religion und das Judentum. Giessen 1920 pag. 77f

Solche apotropäischen Praktiken waren aber durchaus nicht nur auf die slawischen Juden beschränkt. So beruft sich Elias Levita um 1472, den I. Zoller327 zitiert, unter Bezugnahme auf das Alphabet des ben Sira, die Aschkenasim, d. h. die aus Deutschland und den ost­ europäischen Ländern stammende Juden: «Man pflegt auf die Wand des Zimmers, in welchem sich die Frau befindet, die eben geboren hat, mit Vitriol oder Kohle einen Kreis zu zeichnen. In diesen schreibt man: Adam und Eva. Hinaus mit Lilith.»

I. Zoller kommentiert diesen Brauch folgendermassen: «In Venedig und vielleicht auch in vielen ändern jüdischen Gemeinden in Italien, ist der Glaube an Lilith vollständig in Vergessenheit geraten. Aber in zahlreichen kleinen Orten Polens, Russlands und im Orient stellt Lilith nicht einen Glauben dar, sie ist eine Realität, mit welcher man rechnen muss, wenn die Geburt bevorsteht und in der ersten Woche nach Eintritt der Geburt.»328

Kommentar:

Amulette, magische Schutzkreise und Gebete bei der Wöchnerin waren in früheren Zeiten fast allgemein in Gebrauch. Zwar scheint es, dass sie heutzutage eher seltener geworden sind. Doch wurde mir in Israel mehrfach bestätigt, dass bei primitiven jüdischen Familien, namentlich aus arabischen Ländern wie Marokko und Tunesien, sowie im Iran, solche Amulette weit verbreitet sind. Sie bestätigen die Feststellung/. Zollers, dass auch heutzutage Lilith für viele Juden eine Wirklichkeit ist, der gegenüber eine vorsichtige Haltung geboten ist. Eine solche magische Einstellung ist den meisten Menschen nicht mehr adäquat. Eine psychologische Haltung kann uns aber das Verständnis der Wirklichkeit und Wirksamkeit der Lilith als einer inneren Gestalt vermitteln.

327 I. Zoller: Lilith i. RdA. Rom 1926 pag. 374 328 Übersetzung aus dem Italienischen von mir

B. Psychologischer Teil: Zur Psychologie des Lilith-Mythos

I. Psychologische Aspekte des Lilith-Mythos

1) Die erste Begegnung: Der Lilith-Traum Nach den vorausgegangenen historischen und mythologischen Untersuchungen ist es naheliegend, die Frage zu stellen: Wo liegt der Gegenwartsbezug dieses Mythos oder, wo ist das, was die heutigen Theologen als den «Sitz im Leben» zu bezeichnen pflegen, mit anderen W orten: Ist dieser Mythos noch lebendig und was hat er dem modernen Menschen zu sagen? Wie lebendig dieser Mythos geblieben ist, zeigen nicht nur die zahllosen Amulette. Er ist auch von Aktualität im individuellen Bereich. Dies wird zum Beispiel gezeigt in einem Traumbild eines modernen Menschen. Es handelt sich um einen etwa 40jährigen, ausgesprochen depressiven, jüdischen Analysanden, mit vorwiegend intellektueller und intuitiver Einstellung. Etwa zwei Jahre nach Beginn seiner Analyse, in welcher vor allem das Schattenproblem bearbeitet wurde, sah der Träumer folgendes Traum-Bild: «Ich liege nachts mit geschlossenen Augen, aber wach, in meinem Bett. Da schwebt durch das geschlossene Fenster eine wunderschöne, weibliche Gestalt herein und bleibt an meiner linken Seite stehen. Sie schaut mich mit ernstem Blick an, aber sie spricht kein Wort. Ihr Oberkörper ist nackt, ihre Brüste sind sehr betont.

Ihre Hautfarbe ist tiefschwarz. Sie hat grosse, dunkle Augen und ihr schwarzes Haar flattert aufgelöst und wild hinter ihrem Rücken. Am Rücken trägt sie zwei Flügel. Die Frau wirkt sehr attraktiv und verführerisch. Ich bin von ihr fasziniert, zugleich aber habe ich Angst vor ihr und wage nicht, sie anzusprechen.»

Assoziationen:

Beim Erwachen assoziierte der Träumer spontan zwei Einfälle. Die erste Assoziation lautet: «Schwarz bin ich, aber schön», die zweite: ((Dies ist die Dirne Lilith.» Interessanterweise fehlte bei den Assoziationen ein Hinweis auf Lilith als erste Frau Adams, die dem Träumer aus der Walpurgis­ nacht von Goethes Faust bekannt gewesen sein musste.

Kommentar:

Das erste Zitat, das dem Träumer einfällt ist dem Hohen Lied1 entnommen, während die zweite Assoziation, die den Dirnen­ charakter dieser Figur hervorhebt, sich auf eine Wesensseite der Lilith bezieht, die in Mythologie und Religionsgeschichte immer wieder hervorgehoben wird. Es ist wohl kein Zufall, dass dem Träumer ein Zitat aus dem Hohen Lied einfällt, das ihm übrigens gut bekannt war. Nach den Auffassungen der heutigen, kritischen Bibelwissen­ schaft, die mit/. G. Herder einsetzte, handelt es sich beim Hohen Lied um eine Sammlung von altorientalischen Liebesliedern mit ero­ tischem, ja sinnlichem Charakter. Diese Lieder wurden jeweils an Hochzeitsfesten rezitiert, in welchen Braut und Bräutigam als König und Königin gefeiert wurden. Nach W. Wittekind2 liegen diesen Liebesliedern ursprünglich archaische Kultlieder aus dem TammuzIschtar-Kult zu Grunde. Im Hohen Lied finden Wechselgesänge zwischen einem Hirten und einer Hirtin statt. Der Hirt wird auch als König Salomo bezeichnet, was zur Annahme Veranlassung gab, dass dieser selbst 1 Hohes Lied 1,5. Die Zürcher Bibel übersetzt das hebräische Wort schachor, d. h. schwarz, irrtümlicherweise mit braun. 2 W. Wittekindt: Das Hohe Lied und seine Beziehungen zum Ischtarkult. Hannover 1925 pag. 18 Off

der Verfasser der Schrift sei. Die Geliebte wird Sulamith genannt, ein Name, dessen Bedeutung bis jetzt nicht überzeugend geklärt werden konnte. Schon frühzeitig vermochte sich sowohl in der jüdischen wie in der christlichen Bibel-Exegese eine Tendenz durchzusetzen, welche das Hohe Lied allegorisch umzudeuten versuchte. In der jüdischen Allegorese wurde es auf JHWH und Israel, in der christlichen Variante auf Christus und die Ecclesia, und, seit Bernhard von Clairvaux, auf Christus und die Seele bezogen. Diese Umdeutung mag wahrscheinlich der Grund dafür gewesen sein, dass das Buch auf dem Konzil von Jabne (um 100 nach Chr.) trotz zahlreicher Widerstände in den Kanon der heiligen Schriften aufgenommen wurde. Dass sich aber die ursprüngliche Bedeutung auch bei späteren, jüdischen Bibel-Kommentatoren zu erhalten vermochte, zeigt sich beispielsweise bei Samuel ben Me’ir, der zur Erklärung parallele Lieder der altfranzösischen Troubadours heranzieht sowie bei A. ihn Ezra, der arabische Liebeslieder zum Vergleich zitiert. Im Hohen Lied sagt Sulamith von sich: «Schwarz bin ich, aber schön, schwarz wie die Zelte der Kedarener, wie die Zeltdecken der Salmäer. Schaut mich nicht an, dass ich so schwarz bin, dass mich die Sonne verbrannt hat.»

Die Kedarener und Salmäer waren offenbar Nomaden, welche, wie noch heute die arabischen Nomaden, in schwarzen Zelten hausten. In unserem Lilith-Traum stellt die Traum-Figur die unbewusste, weibliche Seite des Träumers, also das dar, was die Jung sehe Psychologie als die Anima zu bezeichnen pflegt, die hier personifi­ ziert erscheint. Dass es sich hier nicht um eine Gestalt aus der Bewusstseinswelt des Träumers handeln kann, geht aus dem ganzen Kontext eindeutig hervor. Wenn wir eine solche Erscheinung auf die persönliche Mutter oder auf eine Mädchenfigur aus der äusseren Realität des Träumers zu reduzieren versuchen, dann geht — wie C. G. Jung 3 betont, der «. . . eigentliche Sinn der Figur verloren, wie überhaupt bei allen diesen redu­ zierenden Deutungen, sei es nun im Gebiete der Psychologie des Unbewussten oder 3 C. G. Jung: Zum psychologischen Aspekt der Korefigur i. C. G. Jung und K. Kerenyi: Das göttliche Mädchen. Leipzig 1941 pag. 104f

in dem der Mythologie. Alle die zahlreichen Versuche auf letzterem Gebiete, Götter­ und Heldenfiguren solar, lunar, astral oder meteorologisch zu deuten, tragen nichts Erhebliches zum Verständnis bei, im Gegenteil, sie verschieben den Sinn auf ein falsches Geleise.»

Aus den herangezogenen, zahlreichen Parallelen geht eindeutig hervor, dass es sich hier um eine überpersönliche oder archetypische Gestalt handelt. Dabei weisen die beiden Assoziationen auf einen Doppelaspekt der Figur hin: einerseits erscheint das Anima-Bild personifiziert als die hoheitsvolle Geliebte des Königs, andererseits als verführerische Dirne. Gegensätzlichkeiten sind für alle archetypischen Figuren spe­ zifisch, besonders dann, wenn sie an der Schwelle des Bewusstseins stehen. Im Verlauf des fortschreitenden Bewusstwerdungsprozesses treten die immanenten Gegensätze auseinander, so dass sie vom Bewusstsein, das ja stets in Gegensätzen denkt und wahrnimmt, wahrgenommen werden können. Dass in diesem Traum Lilith ausschliesslich in ihrer Anima-Rolle erscheint und alle ihre übrigen Aspekte, die sie im Mythos, in der Legende und der Folklore ebenfalls besitzt, in den Hintergrund treten, dürfte damit Zusammenhängen, dass es sich beim Träumer um einen Mann handelt. Würde Lilith im Traum einer Frau erscheinen, so ist anzunehmen, dass ganz andere Wesensseiten zu Tage treten würden. Das helle Bild der Anima verkörpert sich in Sulamith, der dunkle dagegen in der Dirne Lilith. Erstere ist allerdings nur sehr vage angedeutet, während andererseits die «Dirne Lilith» scharf umrissene Züge trägt. Dass im Traum der dunkle Aspekt überwiegt, könnte vielleicht ein Hinweis dafür sein, dass im Bewusstsein des Träumers ein zu helles Anima-Bild vorhanden ist. Das Auftreten einer so dunklen, unheimlichen Traumgestalt würde in diesem Falle eine Korrektur der bewussten Einstellung des Träumers bedeuten. Denn erfahrungsgemäss pflegt das Unbewusste einseitige Bewusstseins­ haltungen zu kompensieren. So ist — um nur ein einziges Beispiel zu bringen — aus der Psychologie der Neurosen bekannt, dass häufig im Bewusstsein ein sehr helles Mutterbild existiert, während im Unbewussten das Bild einer furchtbaren, verschlingenden Mutter

vorherrscht. Dominiert hingegen im Bewusstsein ein ausgesprochen dunkles Mutterbild, dann ist anzunehmen, dass im Unbewussten eine helle, gütige, hegende und nährende Mutter-Gestalt auftreten würde. Die Atmosphäre des Traumes ist weder ausgesprochen düster, noch heiter, sie ist aber deutlich sehr ernst. Aber es haftet ihr etwas seltsam Unwirkliches an: Der Träumer hat zwar die Augen geschlossen und doch nimmt er die Traum-Figur wahr. Das Fenster ist geschlossen und doch schwebt die Gestalt in das Zimmer hinein. Das Erscheinen der Lilith bedeutete für den Träumer ein durchaus numinoses Erlebnis. Er fragte sich zunächst nicht, was es bedeute. Aber er war davon emotional aufs Tiefste ergriffen und machte wiederholte Versuche, es zu malen. Das gemalte Bild deckte sich weitgehend mit dem Traumbild. Erst nach einigen Monaten war er sich über seine ambivalente Gefühlsreaktion bewusst. Es war ihm klar geworden, dass es sich hier um ein Erlebnis aus der eigenen Tiefe handeln müsse. Die Ambivalenz seiner Gefühle zeigte sich darin, dass der Träumer schwankte zwischen einer intensiven Faszination und einer ebenso starken Angst, wobei aber letztere überwog. Sie dürfte wahrscheinlich auch der Hauptgrund dafür sein, weshalb er sich mit seiner Traumfigur nicht auseinanderzusetzen wagte. Vielleicht war das Erlebnis auch so übermächtig, dass er sich nicht auseinander­ setzen konnte. Daher begnügte er sich damit, das Traumbild zu betrachten und wahrzunehmen. Im Übrigen blieb er völlig passiv. Eine solche passive Haltung des Träumers ist vom psycholo­ gischen Standpunkte aus höchst unbefriedigend. Indem er weder aktiv noch reagierend in den Ablauf des Geschehens eingreift, ist er daran innerlich nicht genügend beteiligt. Man muss sich fragen, wie sich wohl der Träumer verhalten hätte, wenn ihm diese Gestalt in der äusseren Realität entgegengetreten wäre. Voraussichtlich hätte er sie nicht einfach betrachtet und wäre an ihr vorbeigegangen, er hätte vielmehr versucht, mit ihr ein Gespräch anzuknüpfen. Ein ganz ähnliches Traumerlebnis hat C. G. Jung4 beschrieben, in welchem ein Träumer völlig unbeteiligt zusieht, wie seine Braut auf

4 C. G. Jung: Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewussten i. Zwei Schriften über Analytische Psychologie. Zürich & Stuttgart 1964 G. W. Vol. VII pag. 234ff

eine Eisfläche hinausläuft und dort langsam in einer Spalte versinkt, ohne dass er ihr zu Hilfe eilt. In unserem Traumbild besteht keine Gefahr für die Anima des Träumers. Aber seine Passivität ist doch beängstigend, denn sie ist Ausdruck seiner gestörten Beziehung zum Unbewussten. Die Begegnung mit dem archetypischen Bilde be­ deutete zwar eine intensive Faszination, wie sie von solchen inneren Bildern ja häufig ausgehen. Aber gleichzeitig stellten sich ebenso intensive Ängste ein, diesem Bild auf irgendeine Weise zu verfallen. Diese Ängste steigerten sich zu Zeiten derart, dass der Träumer fürchtete, einer Psychose zu verfallen. Aber im Verlauf der Analyse kam es allmählich zu einer inneren Festigung und parallel dazu zu einer Änderung seiner passiven Haltung dem Unbewussten gegen­ über. Dies zeigte sich darin, dass langsam eine innere Auseinander­ setzung mit dem Traumbild einsetzte. Den Abschluss dieser Ent­ wicklungsphase bildete eine etwa 10 Jahre später aufgetretene aktive Imagination, in welcher Lilith in völlig veränderter Gestalt noch einmal auftrat. Wir wollen uns aber zunächst weiter mit dem Traumbild be­ schäftigen. Der Stellung Liliths zur Linken des Träumers kommt eine doppelte Bedeutung zu. Sie weist zunächst darauf hin, dass diese Gestalt noch weitgehend im Unbewussten des Träumers verblieben ist. Die linke Seite stellt sowohl in der Mythologie wie in der Traumdeutung der analytischen Psychologie meistens das Unbe­ wusste dar, während die rechte Seite das Bewusstsein symbolisiert. Nun hat die linke Seite — vom Standpunkte des wertenden, kritischen Bewusstseins aus gesehen — häufig einen dunkeln, unheimlichen, ja sogar nefasten Charakter, was schon aus der Doppelbedeutung des lateinischen sinister, das sowohl links wie nefast bedeutet hinweist. Durch die Stellung zur Linken des Träu­ mers wird daher auch der gefährliche, unheimliche Aspekt der Lilith unterstrichen. Die schwarze Farbe der Traumfigur stellt sie in Beziehung zu anderen schwarzen Göttinnen, wie der Isis, Parvati, Artemis und der verschiedenen schwarzen Mariastatuen in Einsiedeln, Cszenstochau, Guadalupe, und andere. Auch die schwarze Farbe hat eine zweifache Bedeutung. Einerseits weist sie auf die Unbewusstheit des Träumers

in Bezug auf diesen Trauminhalt hin, andererseits wird damit der dunkle Charakter nochmals betont. Die Schwärze der prima materia bei den Alchemisten ist ein Ausdruck ihrer Unbewusstheit. Sie ist ausserdem ein gefährlicher Zustand, der erst im Verlauf eines lange dauernden Wandlungsprozesses «abgewaschen» werden muss, damit die verschiedenen Farben der albedo, citrinitas und rubedo erscheinen, welche eine Belebung des Unbewussten bedeuten. Gleichzeitig wird damit die gefährliche nigredo beseitigt. Das schwarze Haar, das aufgelöst und wild hinter dem Rücken der Lilith flattert, sowie die schwarzen, grossen Augen sind Ausdruck einer wilden Natur- und Triebhaftigkeit. Hingegen hat die Entblössung des Oberkörpers eine andere Bedeutung. Es handelt sich wahrscheinlich um eine mehr sakrale Symbolik. Das Enthüllen der Brüste gehört im mykenischen Kult zu den sakralen Riten der kretischen Priesterinnen. Ganz ähnlich verhält es sich beim ZurSchau-Stellen der Brüste im vorderasiatischen Kulturkreis, so zum Beispiel bei der Göttin aus Ras Schamra5 oder den zahlreichen Astarte-Figuren mit entblösstem Oberkörper. Sie alle weisen auf einen Zusammenhang dieser Gestalten mit der arehetypischen Figur der Grossen Mutter hin. Besonders beeindruckt war der Träumer von den beiden Flügeln der Lilith. Er erinnerte sich beim Betrachten dieser Flügel an seinen Initiations-Traum, den er im Alter von etwa vier Jahren hatte, und der ihn durch sein ganzes Leben begleitete: «Ich habe zwei grosse Flügel und fliege damit in der Wohnung herum. Ich kann auch durch die geschlossene Türe fliegen. Ich fliege damit vom ersten Stock durch das Treppenhaus hinunter in den Keller, wo ich etwas suchen soll. Ich bin sehr von dieser Aufgabe fasziniert, aber ich habe auch Angst vor dem dunklen Keller.»

Die beiden Flügel der Lilith im Traumbild sind ein Zeichen dafür, dass es sich eindeutig nicht um ein Wesen aus der Bewusstseinswelt des Träumers handeln kann. Lilith ist eine Gestalt aus der jenseitigen Welt, der Welt des Mythos, des Traumes, des Unbewussten. Auch die Flügel sind ein Hinweis auf die Abstammung von der Grossen Mutter, wie die zahlreichen Abbildungen der geflügelten Mutters E. Neumann: Die Grosse Mutter. Zürich 1956 Tf. 56

Gottheiten zeigen. So ist zum Beispiel in Ägypten die geflügelte Isis eine schützende und bergende Göttin. Als leichenfressender Geier ist sie die Herrin des Todes. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich in diesem TraumBild die Erscheinung der Anima in ihrem Doppelaspekt ankündigt, wobei die dunkle Seite dieser Traumfigur überwiegt.

2) Lilith und Saturn: Die Melancholie Es wurde eingangs erwähnt, dass es sich bei unserem Träumer um einen ausgesprochen melancholisch veranlagten Menschen handelte. Wir wollen uns daher im folgenden mit der Frage beschäftigen, ob — und wenn ja — in welcher Weise diese Melancholie mit der Erscheinung des Lilith-Bildes in Zusammen­ hang stehen könnte. Die Melancholie des Träumers war für den Träumer eine quälende Erfahrung. Sie war nicht kontinuierlich vorhanden, aber sie steigerte sich zu gewissen Zeiten derart, dass sie zu lange andauernden, depressiven Verstimmungen führte, die nicht nur sein Selbst­ vertrauen untergruben, sondern auch zu einer zerstörerischen Selbstkritik führten. Ja, sie ging sogar so weit, dass sie nicht nur seine Arbeitsfreude, sondern auch seinen Lebenswillen zu lähmen drohte. Depressive Verstimmungen können, wie die Psychopathologie zeigt, in Verbindung mit den verschiedenartigsten psychischen Störungen auftreten. Solche Störfaktoren können rein exogener Art sein. Zu diesen gehören beispielsweise die chronischen Intoxi­ kationen, physische Erschöpfungszustände und anderes mehr. Bei den mehr endogen bedingten Störungen, zum Beispiel dem manischdepressiven Syndrom, handelt es sich um Krankheitsbilder, deren Ursachen meist nur schwer fassbar sind. Inwieweit hier die Verer­ bung oder Milieu-Einflüsse mitbeteiligt sind, ist eine kontroverse Frage. Daneben aber gibt es psychogene Störungen, die ebenfalls mit depressiven Verstimmungen in Zusammenhang stehen können. Zu diesen gehören unter anderen die sogenannten Entlastungsdepressionen. Eine besondere Form der psychogenen Depressionen sind die neuro­

tischen Verstimmungen, denen ihrerseits wiederum die verschiedensten

Ursachen* zu Grunde liegen können. Nicht selten sind es unbewusste Ängste, ungelöste sexuelle Konflikte oder unbewusste Agressionen, die hierfür verantwortlich sind. Die verschiedenen Depressionsformen lassen sich indessen nicht immer scharf voneinander abgrenzen, da die Übergänge häufig fliessend sind. Nun gibt es aber auch gewisse depressive Verstimmungen, welche sich aus einer bestimmten, möglicherweise erbmässig bedingten Veranlagung erklären lassen, bei welchen weder eine exogene noch eine endogene Komponente mit Sicherheit nachgewiesen werden kann. Es handelt sich um Depressionen, welche in irgendeiner, noch nicht ganz geklärten Weise mit schöpferischen Prozessen in Beziehung stehen. Ich würde für diese Art Depression den Ausdruck «schöpferische Melancholie» vorziehen. Eine neurotische Kompo­ nente kann, muss aber keineswegs mitbeteiligt sein. Solche Depressionen treten häufig vor Beginn, gelegendich auch während einer kreativen Phase auf, während Depressionen nach Abschluss des schöpferischen Werkes in den meisten Fällen zu den Endastungsdepressionen gehören dürften. Derartige Verstimmungen lassen sich unschwer bei schöpferi­ schen Menschen nachweisen, und zwar bei darstellenden Künstlern, wie bei Musikern, Dichtern und Philosophen. Geht man den Depressionen dieser Art nach, so stösst man nicht selten auf eine sogenannte saturnische Veranlagung des schöpferischen Menschen. Dies veranlasst uns, der Beziehung von Saturn und Melancholie nachzugehen. Im Anschluss daran wird die Frage der Beziehung Liliths zu Saturn die Rede sein. Bereits in der Antike wurde der römische Gott Saturn, der dem griechischen Kronos entspricht, mit einem Planeten identifiziert, welcher daher ebenfalls den Namen Saturn erhielt. Der Gott Saturn ist eine ambivalente Gestalt: einerseits ist er der Spender der Weisheit, Reife, Stetigkeit, der Intelligenz und der schöpferischen Kräfte. Diese positiven Seiten treten namendich in der mittelalterlichen Philosophie; vor allem im Neoplatonismus in den Vordergrund. In der ebenfalls mittelalterlichen, abendländischen

Astrologie hat sich dagegen eine völlig entgegengesetzte Auffassung

durchzusetzen vermocht. Hier ist Saturn durchwegs ein maleficus, ein Unglücksgestirn, das nicht nur verantwortlich ist für allerlei Krankheiten, Verbrechen und Tod, sondern der vor allem den Menschen in Trübsinn, tiefste Einsamkeit, Melancholie und Ver­ zweiflung stürzt. Nicht umsonst bedeuten das spanische Wort saturnino und das englische saturnine einerseits saturnisch, d. h. der Herrschaft des Saturn unterworfen, wie andererseits melancholisch. Dies führt uns zu einem kurzen Exkurs in die antike und mittel­ alterliche Lehre von den vier Temperamenten, insbesondere der Melancholie. Die Melancholie ist eines der bereits dem frühen Altertum bekannten Temperamente oder «Komplexitäten», welche auf der richtigen Mischung und Temperatur der vier Grundsäfte oder humores beruht. Diese sogenannte Humoral-Lehre, deren Anfänge auf Hippokrates zurückgeführt werden, wurde später von Celsus, Soranus, Aretaeus und anderen, sowie den arabischen Astrologen des 9. und 10. Jahrhunderts weiter ausgestaltet und schriftlich fixiert. Nach der sogenannten Korrespondenz-Lehre, welche während des ganzen Altertums und teilweise auch im Mittelalter geläufig war, entspricht dem Oben ein Unten, der Makrokosmos dem Mikro­ kosmos und umgekehrt. Dementsprechend werden den vier Planeten-Göttern Jupiter, Mars, , Saturn und Merkur, die der Natur dieser Planeten entsprechenden Körpersäfte oder Gallen, sowie jene Organe zugeordnet, in welchen diese humores entstehen. Dies zeigt sich in der folgenden TypenEinteilung: Jupiter : warm & feucht — grüne Galle — Leber — Sanguiniker Mars : warm &: trocken — gelbe Galle — Leber — Choleriker Saturn : kalt 8c trocken — schwarze Galle — Milz — Melancholiker Merkur : kalt & feucht — weisse Galle — Lunge — Phlegmatiker Verfolgt man die Wertung dieser vier Temperamente, dann zeigt sich, dass namentlich in Griechenland das «joviale», sanguinische Temperament als das Ideal galt, während die anderen, vor allem das melancholische Temperament als krankhaftes Verhalten bezeichnet wurden. Nach C. Galenus hat die Melancholie ihren Sitz im Hypo6

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E. Fischer-Homberger: Hypochondrie. Bern & Stuttgart & Wien 1970 pag. 14fF

chondrion, d. h. dem Teil des Körpers unter dem Brustbein und den Rippen. Er spricht in diesem Zusammenhang vom morbus hypochondriacus. Eine Wende in diesen Auffassungen zeichnet sich indessen bereits bei Aristoteles, dem jüngeren Zeitgenossen des Hippokrates ab. Wie Saturn ursprünglich eine vielfach schillernde Gestalt war, so ist bei Aristoteles auch die Melancholie ambivalent. Er unterscheidet nämlich eine krankhafte Melancholie (melancholia dia noson) von einer natürlichen Melancholie (melancholia dia physin). Denn die schwarze Galle der Milz (melaina chole) vermag nach ihm in der richtigen Dosierung und in der richtigen Temperatur den Menschen zu grossen geistigen Leistungen zu befähigen, wie andererseits durch falsche Dosen und durch Überhitzung schwere Depressionen ent­ stehen können. Diese Ideengänge werden in der Zeit der Renaissance, vor allem im Florenz der Medici durch Dante und Petrarca, ganz besonders aber vom Arzt und Humanisten M. Ficino weiter entwickelt. Wie Petrarca, so war auch M. Ficino einer schweren Melancholie unterworfen. In seinem Briefwechsel mit G. Cavalcanti7 erwähnt er, dass er selber «die Bitterkeit der Melancholie und die Bösartigkeit des Saturn» am eigenen Leibe erfahren habe. Aber andererseits erkannte er auch, dass gerade Saturn ihn zu geistig-schöpferischer Tätigkeit befähigte. Dies war vermutlich auch der Grund, weshalb es ihm möglich war, seine Melancholie zu akzeptieren. Daher bezeichnete er Saturn als das «edelste und mächtigste Gestirn»8 und die Melancholie als eine «einzige und göttliche Gabe».9 Die bereits in der Antike verbreitete Auffassung, dass innerhalb der Seele drei Tätigkeiten existierten, nämlich die Imaginatio, die Ratio und der Mens, wurde später auch von Agrippa von Nettesheim10 übernommen. Nach Agrippa stehen alle drei Tätigkeiten der Seele oder des Geistes unter der Herrschaft des Saturn und seines «furor 7 E. Panofsky & F. Saxl: Dürers Melencolia I i. Studien der Bibliothek Warburg. Leipzig & Berlin 1923 Vol. II pag. 33 8 E. Panofsky & F. Saxl: 1. c. pag. 35 9 E. Panofskv & F. Saxl: 1. c. pag. 34 10 F. Nordstrom: Goya, Saturn and Melancholy. Uppsala 1962 pag. 131

melancholicus». Noch weiter g e h t/ C. Lavater,n der sich über den Geist äussert: «So pflegt er doch auch zu gleicher Zeit ein anderes, noch merklicheres und minder wandelbares Kennzeichen an sich zu tragen, nämlich eine erhabene, sanfte und tiefsinnige Melancholie. Diese Gemütsverfassung ist wirklich die unzer­ trennliche Gefährtin des Genius.»

Der Zusammenhang zwischen saturnischer Veranlagung, Me­ lancholie und geistig-künstlerischer Kreativität lässt sich unschwer an einigen Beispielen nachweisen. Jedes wesentliche, geistige oder künstlerische Werk ist letzten Endes eine Aussage über den, der es geschaffen hat. Schon L. da Vinci prägte das Wort: Jeder Maler malt sich selbst und A. Dürer stellt ähnlich fest: «Viele Maler machen das ihm gleich ist.» Gerade A Dürer ist ein treffendes Beispiel für den Zusammenhang zwischen satur­ nischer Melancholie und schöpferischer Begabung. Dies kommt vor allem in einem der drei berühmten Kupferstiche A. Dürers zum Ausdruck, der Melencolia I. Das Bild zeigt eine geflügelte, weibliche Gestalt mit ernstem Blick. Wie im Lilith-Traum weisen auch hier die Flügel darauf hin, dass es sich nicht um eine Gestalt aus der Bewusstseinswelt des Künsders, sondern um eine Figur aus dem Unbewussten handelt. Sie sitzt in tiefer Selbstversunkenheit da, in Ergebung in ihr Schicksal. Ein geflügeltes Tier — vielleicht eine Fledermaus — trägt auf einem Flügel die Inschrift: Melencolia I. Am Boden liegt ein schlafender Hund, in der Bildmitte ist ein, ebenfalls geflügeltes Kind, dessen Deutung nicht ganz klar ist.12 Neben allerhand allegorischen Gegenständen, wie Glocke, Stundenglas und Waage liegen verschiedene Werkzeuge, die jenen Berufen ent­ sprechen, welche dem Saturn unterstehen. Die Klistierspritze, der Kranz feuchter Blätter, den die Frau auf dem Kopfe trägt, sowie die magischen Zahlenquadrate, versinnbildlichen jene Mittel, mit welchen man damals der Melancholie Herr werden wollte. Das Bild ist, wie E. Panofsky und F. Saxl feststellen, «nichts anderes, als ein 11 F. Nordstrom: 1. c. pag. 131 12 G. R. Heyer: Dürers Melancholie und ihre Symbolik. Zürich 1935 pag. 231 ff ist sowohl vom ikonographischen wie vom psychologischen Standpunkt aus in manchen Punkten anfechtbar.

geistiges Selbstporträt A. Dürers», der ursprünglich Kupferstiche aller vier Temperamente plante, der aber die drei anderen13 «. . . nur um deswillen nicht dargestellt hat, weil er sich nicht mit ihnen identifizieren konnte.»

Dass A. Dürer selbst mit einer schweren Melancholie zu kämpfen hatte, geht auch aus einem Ausspruch seines jüngeren Zeitgenossen Melanchthon hervor, der von der «melancholia generosissima Duereri» spricht. Beide Dürer-Forscher nennen daher die Melencolia I ein echtes Selbstbekenntnis des Künstlers. Es spiegelt14